Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
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Dieser Gegensatz zwischen den „Großen“ und den „Kleinen“ war ein Thema, das noch sehr oft in Genf diskutiert werden sollte. Wie richtig hatten Luther und Stresemann gehandelt, als sie sich weigerten, durch die Teilnahme an den Ratsdebatten in diesen Hexenkessel hineingezogen zu werden.
Nach Mitternacht kam plötzlich der Vertreter der französischen Havas-Agentur in das überfüllte Lokal hereingestürmt. Er schwenkte ein weißes Papier in der Hand. „Kommuniqué der englischen Delegation“, rief er in den Raum und war im Nu von allen umdrängt.
„Es ist Sir Austen Chamberlain zu Ohren gekommen, daß Gerüchte in Umlauf sind, wonach er während der Sitzung des Völkerbundsrates ... der schwedischen Delegation gedroht haben soll. Es wird hiermit erklärt, daß diese Gerüchte frei erfunden sind und jeglicher Begründung entbehren“. Ein vielstimmiges Gelächter war die für Chamberlain wenig schmeichelhafte Reaktion der Weltpresse. Die Bavaria war nicht überzeugt.
In den nächsten Tagen erlebte ich dann innerhalb und außerhalb der immer noch streng geheimen Besprechungen der Locarno-Mächte ein wahres Tauziehen zwischen Luther und Stresemann einerseits und Briand und Chamberlain andererseits um die Lösung der Ratsfrage. Es war in seiner ganzen Art so typisch für die Genfer Methoden, daß die deutschen Neuankömmlinge gleich von vornherein den richtigen Eindruck bekamen und bei späteren Gelegenheiten ähnlicher Art, die sich während unserer siebenjährigen Mitgliedschaft in diesem internationalen Völkerverein noch sehr zahlreich ergaben, kaum noch Überraschung empfanden.
Kompromiß ist das Wesen der Diplomatie, und wer, wie Hitler oder andere Diktatoren, „kompromißlos“ denkt und handelt, verzichtet überhaupt auf jede Diplomatie und unterwirft sich dadurch selbst der Beschränkung auf Gewaltmethoden, die durchaus nicht immer die Gestalt bewaffneter Konflikte anzunehmen brauchen. Logischerweise nahm daher die Methode der Kompromißlösung im Genfer System einen wesentlichen Platz ein. Auch in der Ratsfrage wurde uns nun ein Kompromiß angeboten.
Briand und Chamberlain erklärten sich bereit, die Frage der ständigen Ratssitze fallen zu lassen und weder für Polen noch für Spanien einen derartigen ständigen Platz am Ratstisch zu beantragen. Als Gegenleistung dafür aber sollte Deutschland schon vor seinem Eintritt seine Zustimmung zur Schaffung eines zusätzlichen nichtständigen Sitzes geben. Den sollte dann allerdings Polen erhalten, wie Briand und Chamberlain ihrem Vorschlag hinzufügten.
Wie alle Besprechungen, in denen Kompromißvorschläge vorgebracht werden, verlief diese Unterhaltung der Locarno-Minister wieder sehr freundschaftlich, fast so wie in den „alten Zeiten“ vor einigen Monaten, vor allem, als der Vorschlag von deutscher Seite nicht abgelehnt wurde, sondern man sich nur Bedenkzeit erbat. Daraus zogen England und Frankreich den Schluß, daß die Situation gerettet sei, und informierten etwas voreilig ihre Journalisten in diesem Sinne. Das konnte man an jenem Tage deutlich in der Bavaria spüren und am nächsten Tage in allen Zeitungen Europas und Amerikas lesen.
Um so schwerer war der Rückschlag, als Luther und Stresemann am Nachmittag desselben Tages in einer kurzen Besprechung mit Briand diesen Vorschlag ablehnten. Stresemann erklärte, daß es sich auch hierbei wieder für Deutschland darum handeln würde, schon vor Eintritt in den Völkerbund an einer Umgestaltung seiner Organisation mitzuwirken, und daß die deutsche Delegation sich hierfür nicht zuständig fühle, sondern lediglich um die Erfüllung des ihr in Locarno gegebenen Versprechens bitte. Maßgebend für die ablehnende Stellungnahme der deutschen Delegierten war der natürliche Wunsch, sich nicht in die, wie wir ja selbst erlebt hatten, unberechenbaren Streitigkeiten zwischen den kleinen und großen Mitgliedern des Völkerbundes hineinziehen zu lassen. Außerdem konnten wir auch nicht gut dem schwedischen Außenminister Undén, der von vornherein aus prinzipiellen Gründen den gleichen Standpunkt vertreten hatte wie das Reich, in den Rücken fallen.
Sofort nach Bekanntwerden dieser negativen Haltung der Deutschen schlug die Stimmung in Genf und in der Weltöffentlichkeit gegen uns um. Die Bavaria wurde, so unwahrscheinlich das damals auch klingen mochte, antideutsch. Briand und Chamberlain sahen ihre Politik von Locarno wieder in großer Gefahr und ihre persönliche Stellung erneut bedroht. Mit einiger Mühe hatte ja Briand soeben erst ein neues Kabinett gebildet. Sollte er nun nach wenigen Tagen wegen der deutschen Haltung schon wieder abtreten müssen? Chamberlain wußte noch aus den letzten Tagen vor seiner Abreise sehr genau, wie die englische öffentliche Meinung gegen ihn eingestellt war. Würde sie ihm nicht mit fast automatischer Sicherheit das Scheitern von Genf und Locarno zur Last legen und ihn um sein Amt bringen?
Beide gingen daher dazu über, die Deutschen unter Druck zu setzen, indem sie ihnen die Schuld am Scheitern der Verhandlungen zuschoben und sich damit gleichzeitig selbst vor ihren Parlamenten und ihrer öffentlichen Meinung entlasteten.
„Zu unserer großen Bestürzung“, erklärte Briand in einer Pressekonferenz, „haben die Deutschen unseren Vorschlag nicht angenommen. Wir sind bis zur äußersten Grenze der Nachgiebigkeit gegangen. Jetzt mögen die Deutschen sich überlegen, welche unberechenbaren Folgen eine endgültige Weigerung ihrerseits nach sich ziehen würde. Hoffentlich machen sie uns noch im letzten Augenblick einen annehmbaren Vorschlag.“
„Morgen werden vielleicht 40 Millionen Engländer gegen mich aufstehen“, hatte Chamberlain in seiner Pressekonferenz noch um ein Uhr nachts den Journalisten erklärt, „aber ich habe ein reines Gewissen.“ Er habe alles zur Befriedung Europas getan und Deutschland den Eintritt in den Völkerbund erleichtert. Es bleibe ihm nun nichts weiter übrig, als auf die letzte Entscheidung der verantwortlichen deutschen Vertreter zu warten.
Aber nicht nur wir Deutsche wurden unter Druck gesetzt. Das gleiche geschah mit dem schwedischen Außenminister Undén, der damals wie heute in der Frage der Aufrechterhaltung der schwedischen Neutralität seinen Standpunkt mit nordischer Hartköpfigkeit verteidigte. Chamberlain hatte sich bei ihm schon die Finger verbrannt, aber er versuchte es noch einmal. Der sozialdemokratische Außenminister Belgiens, Vandervelde, bemühte sich ebenfalls um den Sozialisten Undén. Weitere Versuche auf Grund der gemeinsamen Parteizugehörigkeit wurden von Albert Thomas, dem französischen Direktor des Internationalen Arbeitsamtes, gemacht. Aber Undén war nicht zu erschüttern, jedenfalls nicht in seiner grundsätzlichen Haltung. In der Praxis aber gab er insofern plötzlich nach, als sich Schweden bereit erklärte, auf seinen eigenen Ratssitz zu verzichten, so daß dieser dann einem anderen Lande, also zum Beispiel auch Polen, zur Verfügung gestellt werden konnte.
Wieder atmeten Chamberlain und Briand erleichtert auf, denn nun schienen ja wirklich alle Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt zu sein. Aber wieder wurden sie enttäuscht, denn Stresemann erklärte Briand erneut, daß er diese Lösung nicht annehmen könne. „Wenn an Stelle des neutralen Schwedens ein der Entente nahestehender Staat gewählt werden würde, so würde sich dadurch die politische Grundstruktur des Völkerbundsrates hinsichtlich der möglichen Gruppenbildungen derartig ändern, daß eine solche Lösung die unerfreulichste Regelung der ganzen Angelegenheit für uns darstellen würde“, fügte er seiner Weigerung erklärend hinzu. Es zeugte für die Großzügigkeit und das Verständnis Briands, daß er nicht etwa aufbrauste, sondern nach einer kurzen Rücksprache mit Chamberlain nun seinerseits einen Gegenvorschlag machte, der den deutschen Bedenken sehr weitgehend Rechnung trug. Es sollte nicht nur Schweden, sondern auch die Tschechoslowakei veranlaßt werden, ihren nichtständigen Sitz für eine andere Macht zur Verfügung zu stellen. Diesen Sitz sollte dann Holland erhalten, so daß das Gleichgewicht der Kräfte im Rat zwischen Neutralen und Entente-Staaten nicht geändert worden wäre.
In meine Bewunderung für das verständnisvolle Eingehen Briands auf unsere Lage und seinen geschickten und großzügigen Vorschlag mischte sich, als ich ihn Stresemann übersetzte, ein gewisses Befremden darüber, wie hier von den Großmächten die kleinen Staaten wie Schachfiguren verschoben