Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
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Es hätte wohl kaum einen triftigen Grund für Stresemann und Luther gegeben, diesen Vorschlag abzulehnen, denn sämtliche Forderungen Deutschlands waren damit befriedigt. Es wäre das Versprechen von Locarno genau so erfüllt worden, wie es im Vorjahre abgegeben worden war. Deutschland hätte in dem Rat, so wie er zur Zeit von Locarno bestand, d. h. mit vier ständigen und sechs nichtständigen Mitgliedern, einen zusätzlichen ständigen Sitz erhalten. Eine Ratserweiterung wäre nicht eingetreten. Aber der französische Ministerpräsident wäre trotzdem nicht mit leeren Händen vor seine Pariser Opposition getreten. Er hätte seinerseits durchgesetzt, daß Polen nichtständiges Ratsmitglied geworden wäre. Nur Chamberlein hätte nicht für Spanien sorgen können. Aber er wäre deswegen in England nicht kritisiert worden, da ihm ja gerade wegen des spanischen Sitzes so schwere Vorwürfe gemacht worden waren.
Noch während Luther und Stresemann überlegten, welche Hintergedanken der letzte Vorschlag enthielt, der auf den ersten Blick einen fast hundertprozentigen Sieg der deutschen Haltung bedeutete, trat eine jener in Genf und heute in den Vereinten Nationen so häufig vorkommenden dramatischen Wendungen ein.
Nach endlos erscheinendem Hin und Her, nach all den zahlreichen Besprechungen bei Tag und bei Nacht zu zweit, zu viert oder in dem Sechserkollegium der Männer von Locarno, nach erregten Debatten hinter verschlossenen Türen, nach teils zu optimistischen, teils zu pessimistischen Pressekonferenzen, nach dem Wechsel von warm und kalt, von Druck und Gegendruck, von Kompromiß und Gegenvorschlag, waren die Männer von Locarno schließlich zu einer brauchbaren Lösung gelangt. Da schaltete sich Mello-Franco, der Brasilianer, den man über dem heißen Ringen der letzten Tage fast völlig vergessen hatte, plötzlich wieder ein.
„Wenn Brasilien nicht sofort einen ständigen Ratssitz erhält, wird es unweigerlich gegen die Aufnahme Deutschlands stimmen“, so wiederholte er seine schon mehrmals ausgesprochene Drohung. Nun meldete auch China eine Forderung an. Die Spanier drohten mit dem Austritt aus dem Völkerbund. Das Durcheinander war vollkommen. Einen Augenblick lang herrschte allgemeine Ratlosigkeit. Dann ergriff Briand die Initiative.
„Es ist angesichts des brasilianischen Vetos klar, daß unsere Bemühungen gescheitert sind“, erklärte er in einer schnell einberufenen Sitzung der Locarno-Mächte. „Wir müssen die Aufnahme Deutschlands zu unserem Bedauern auf die Septembersitzung vertagen“, fügte er leise mit müder Stimme hinzu, denn auch er hatte in den letzten Tagen seine ganze Energie auf die Erreichung einer Lösung gerichtet und fühlte nun die Abspannung. „Aber wir dürfen das Werk von Locarno dadurch nicht in Gefahr bringen“, fuhr er wieder etwas munterer werdend fort und schlug dann die Herausgabe einer Erklärung vor, in welcher sich die Locarno-Mächte erneut zu ihrem Abkommen bekennen sollten, obwohl es durch den Nichteintritt Deutschlands juristisch noch nicht in Kraft treten könne.
„Die Locarno-Mächte erklären, daß sie sich über die Schwierigkeiten geeinigt hatten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt unter ihnen entstanden waren ... Sie stellen mit Befriedigung fest, daß das Friedenswerk, welches sie in Locarno vollendet haben, und welches mit seinem ganzen Wert und in seiner ganzen Kraft bestehen bleibt, (durch diese Schwierigkeiten) nicht berührt wird. Sie halten daran fest, heute wie gestern, und sind entschlossen, sich gemeinsam dafür einzusetzen, es aufrechtzuerhalten und fortzuentwickeln“, so lautete dann die Erklärung, auf die sich die Männer von Locarno zur Rettung ihres Werkes geeinigt hatten.
Gleichzeitig war auch der deutsche Vorschlag angenommen worden, den ganzen Fragenkomplex der Ratserweiterung durch eine besondere Kommission untersuchen zu lassen, an der Deutschland sich zu beteiligen versprach. Bis zum September hat dann diese Kommission, in der der deutsche Botschafter in Paris, von Hoesch, und der Rechtssachverständige des Auswärtigen Amts, Dr. Gaus, als Vertreter des Reiches fungierten, zweimal getagt und auch einen Bericht ausgearbeitet.
Es wurde jetzt noch ein letzter Versuch gemacht, auf Brasilien einzuwirken. Das Interessante an der von Mello-Franco gegebenen Begründung für die brasilianische Unnachgiebigkeit war übrigens das Argument, daß der Völkerbund keine rein europäische Angelegenheit sein dürfe und daß auch die überseeischen Länder und Kontinente, wie z.B. Südamerika, im Rat durch ständige Mitglieder vertreten sein müßten, wenn die Universalität des Bundes gewährleistet sein sollte. England und Frankreich bemühten sich durch ihre diplomatischen Vertreter in Rio de Janeiro, die Brasilianer zu einem Abgehen von ihrer starren Haltung zu bewegen. Sämtliche südamerikanischen Mitglieder des Völkerbundes richteten dringende Telegramme nach der brasilianischen Hauptstadt. Bis zum letzten Augenblick bestand eine geringe Hoffnung, auf diese Weise eine Lösung der Krise herbeizuführen.
Noch am Morgen des entscheidenden Tages, kurz bevor die Ratssitzung eröffnet wurde, an die sich die Sitzung der Vollversammlung anschließen sollte, wurde die deutsche Delegation aus dem Völkerbundssekretariat gebeten, sich auf alle Fälle für die Aufnahmeformalitäten bereitzuhalten. Ich hatte in dem Zimmer des Hoteldirektors einen Radioapparat entdeckt. Es war ein ganz primitiver, kleiner Kasten, den man nur mit Hilfe von Kopfhörern benutzen konnte, aber ich wußte, daß die Schweizer Sender die öffentliche Vollsitzung der Bundesversammlung übertragen würden, und so stülpte ich mir denn gespannt die Hörer über ...
Ich hatte Glück im Unglück. Ich hatte den Apparat gerade zur rechten Zeit eingeschaltet. Mello-Francos tiefe Stimme mit ihren rollenden südamerikanischen R’s klang an mein Ohr. „Die Entscheidung Brasiliens ist,irrevocable’, unwiderruflich“, klang es mir schrill in die Ohren. Ich eilte sofort ins erste Stockwerk zu Stresemann, um ihm von dieser Wendung zu berichten. Nach einiger Zeit ließ auch er sich einen Radioapparat ins Zimmer bringen und hörte dann mit Luther und seinen engsten Mitarbeitern von seinem Hotelzimmer aus den Verlauf dieser Sitzung mit an, die wir uns so ganz anders vorgestellt hatten, und die uns statt des feierlichen Einzugs in den Weltbund der Staaten nur eine enttäuschende Szene in dem ganz still gewordenen Zimmer des Métropole-Hotels brachte.
„Wir hatten die Schwierigkeiten und die ernsten Mißverständnisse zwischen Deutschland und uns gelöst durch jenen Geist der Versöhnung und des Kompromisses, den auch die deutschen Vertreter in so anerkennenswerter Weise gezeigt haben“, hörten wir Briand von der Tribüne des Völkerbundes sagen. „Jetzt stehen wir vor der Notwendigkeit, uns zu vertragen, ohne unser Ziel erreicht zu haben. Das ist für uns alle eine grausame Ironie des Schicksals“, fuhr er fort, gab dann einen Überblick über die dramatischen Verhandlungen der letzten Tage und schloß mit einer optimistischen Note.
„Wir lassen uns nicht entmutigen, wir empfinden keine Bitterkeit und haben diesem Ereignis, so schmerzlich es auch sein möge, fest ins Auge gesehen, wir haben dafür gesorgt, daß das Friedenswerk von Locarno erhalten bleibt.“ Deutlich hörte man durch den Lautsprecher den minutenlangen Beifall bei diesen Worten des französischen Ministerpräsidenten. „Wir wollen uns aber nicht trennen, ehe wir zum mindesten die vorweggenommene moralische Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund aussprechen“, und nach diesen Worten verlas er eine entsprechende Entschließung, die unter allgemeinem Beifall einstimmig angenommen wurde.
In ähnlichem Sinne sprachen sich dann noch mehrere andere Delegierte aus, aber wir hatten das Interesse verloren, und das Radio wurde abgestellt. Chamberlains. Worte waren uns entgangen, weil er unmittelbar nach dem Brasilianer gesprochen hatte, als wir uns noch um ein Radio für Stresemann bemühten.
Noch am gleichen Abend reiste die deutsche Delegation nach Berlin ab, und ich kehrte, um eine große Erfahrung reicher, wieder zu den Zolltarifpositionen, den Besprechungen über Eisen und Stahl, über Maschinen und Textilien, Blumen und Wein im Rahmen der deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen nach Paris zurück. Im Schlafwagen Genf–Paris ließ ich noch einmal diese aufregenden Tage mit ihren dramatischen Wendungen und Überraschungen an mir vorüberziehen. Es war das Bild von typisch Genfer Verhandlungen, wie ich sie später noch so oft erleben sollte. Aber ich war nicht entmutigt. Denn mir schien das wichtigste Ergebnis dieser kritischen Tage der Beweis zu sein, den sie für die