Front ohne Helden. Franz Taut
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Auf einmal vernahm er einen schwachen Kommandoruf, der vermutlich italienisch, keinesfalls jedoch russisch war. Einer plötzlichen Eingebung folgend brüllte er: »Evviva Italia – evviva Italia!«
Im nächsten Augenblick löste sich die Ordnung der Kolonne auf. Soldaten in dunkelgrauen Mänteln und den Stahlhelmen des italienischen Heeres stürzten auf den Skiläufer im Schneehemd zu, der hinter dem vereisten Strauch hervorkam, und ungezählte Stimmen sprachen und riefen aufgeregt durcheinander. Das einzige, ständig wiederholte Wort, das Mareiner verstand, war: »Tedesco«.
Mit eifrigem Kopfnicken und »si, si, si« bestätigte er, dass er Deutscher sei, und steigerte damit die Aufregung der Italiener so gewaltig, dass diese einander nur noch überschrien. Bis schließlich von der Spitze der Kolonne ein Offizier herankam, mit scharfer Stimme Ruhe gebot und sich dem »Tedesco« gegenüber als Tenente Giuseppe Favere bekannt machte.
»Hoch erfreut«, sagte Mareiner und nannte seinerseits Dienstrang und Namen.
»Ich bin glücklich, Herr Kamerad«, sagte Leutnant Favere in gut verständlichem Deutsch. »Der Himmel schickt Sie uns. Aber – per Dio – Sie sind doch nicht auch versprengt wie wir?«
Mareiner verneinte lachend.
»Ich bin auf Erkundung«, sagte er, »aber von Ihnen kann ich sicher erfahren, was bei Ihnen passiert ist. Wir sind seit gestern ohne jede Verbindung.«
»Das glaube ich wohl«, entgegnete der italienische Leutnant. »Es ist bei mir nicht anders. Der Russe ist durchgebrochen. Mehr weiß ich auch nicht. Ich habe mit meiner Kompanie meine Stellung geräumt, als sie nicht mehr zu halten war. Wir sind unterwegs in starkes Artilleriefeuer geraten und später von russischen Reitern angegriffen worden. Meine Verluste waren sehr hoch, Herr Kamerad. Zuletzt habe ich im Schneesturm die Richtung verloren.«
»Welches Bataillon?«, schrie Oberleutnant Mareiner. Das Tosen des Sturms schwoll plötzlich so sehr an, dass es einem förmlich die Worte vom Mund wegriss. Doch Leutnant Favere hatte verstanden.
»Bataillon ›Derrutti‹ – stellvertretender Bataillonsführer Capitano Berti«, gab er ebenso lautstark zurück.
»Was ist mit Fendt? Wo ist er?«, fragte Mareiner. »Der deutsche Wachtmeister Fendt. Er war unterwegs zu Ihrem Bataillon.«
Der Italiener antwortete mit einer hilflosen Geste.
»Ich weiß nichts von einem deutschen Wachtmeister.«
»Wohin wollen Sie mit Ihren Leuten?«, fragte Mareiner, beunruhigt durch das sichere Gefühl, sich nicht länger aufhalten zu dürfen.
»Kein Befehl«, erwiderte Favere.
»Wir bringen Sie erst einmal nach Lysselkowo«, sagte Mareiner. »Rufen Sie Ihre Kompanie zusammen. Ich hole nur rasch meine Leute.«
Er drehte seine Skier um und lief mit langen Gleitschritten zur Balka.
»Wir kehren um«, rief er den Pionieren zu. »Es sind Italiener – eine versprengte Kompanie. Perch, Sie übernehmen mit zwei Mann die Führung. Die anderen kommen mit mir.«
Die Kolonne der Italiener tauchte im Flockenwirbel auf. Man hörte die anfeuernden Avanti-Rufe des Offiziers. Unter den Soldaten, von denen manche nicht einmal mehr ihre Gewehre bei sich hatten, waren auch mehrere Verwundete. Einige wurden von Kameraden gestützt.
Als Mareiner Favere erblickte, rief er ihm zu, er solle den drei Mann auf Skiern folgen. Er selbst werde sich mit dem Rest seiner Leute an den Schluss der Kolonne setzen, um dafür zu sorgen, dass niemand zurückbleibe.
Die grauen Schemen zogen dicht aufgeschlossen vorbei. Nach Mareiners Schätzung waren es etwa siebzig Mann. Wenn die Kompanie bei Beginn des russischen Angriffs ihre volle Kriegsstärke gehabt hatte, mochte Favere die Hälfte seiner Männer verloren haben.
»Die müssen ganz hübsch Federn gelassen haben«, bemerkte einer der Pioniere. »Sind halt Spagettifresser.«
»Halt die Luft an, Franz!«, versetzte Mareiner scharf. »Meinst du, ihr seht besser aus, wenn euch der Iwan die Stellung unter dem Sitzfleisch wegschießt?«
Er wartete, bis die letzten Italiener – eine Gruppe humpelnder Nachzügler, die offenbar erfrorene Füße hatten – vorbei waren. Dann schloss er sich mit seinen Pionieren an.
Im Grunde war Mareiner jetzt vollkommen im Bilde. Wenn der Feind die Gegend bereits mit Reiterspitzen unsicher machte, war es nicht ratsam, die Erkundung noch weiter vorzutreiben. Den Reitertrupps folgten zumeist Panzer mit aufgesessener Infanterie. Auch nach dem Erdrutsch bei Kletzkaja war es so gewesen. Fraglich war nur, was aus den Italienern werden sollte, wenn sie glücklich nach Lysselkowo gelangten. Doch das zu entscheiden, war Sache des Ortskommandanten Hauptmann Martin. Zur Stunde war nur eines wichtig: man besaß die Gewissheit, dass die Front am Don vom Russen aufgerissen worden war, und dass man nichts Wesentliches an eigenen Kräften mehr vor sich hatte. Alles andere würde sich ergeben, wenn die Panik sich legte, die allem Anschein nach große Teile der italienischen Front erfasst hatte.
Mareiner vermutete, dass in Kürze auf irgendeinem Weg bei Hauptmann Martin der Befehl eintreffen würde, Lysselkowo, das sicherlich bereits überflügelt war, zu räumen und Anschluss zur neuen Front zu suchen, die sich weiter rückwärts bilden würde. Die sich bilden musste, dachte Mareiner. Bisher war das immer so gewesen, selbst nach der Katastrophe bei den Rumänen. Aber was dann, wenn es einmal anders lief, wenn es zu keiner Frontbildung mehr kam, wenn alles ins Fließen geriet? Hatte man nicht 1941 den Russen in der Zeit von Ende Juni bis Oktober durch die ganze Ukraine bis an den Donez zurückgeworfen? Wenn nun das Blatt sich wendete, wenn plötzlich der Feind am Zuge war? War nicht Stalingrad, die Einschließung einer ganzen deutschen Armee, das böseste Vorzeichen? Nein, versuchte Mareiner sich einzureden, wir sind ja noch da!
Der Sturm verebbte. Auch der Schneefall ließ nach. Das Grollen des Geschützfeuers war wieder zu vernehmen. Seltsam war nur, dass die Gegend um Lysselkowo anscheinend ausgespart blieb. Jedenfalls war dort, wo das Dorf lag, das an das schneebeladene Tannenwäldchen im Norden grenzte, alles ruhig.
Die licht ragenden Tannen, zwischen denen die vier schweren Feldhaubitzen der 3. Batterie in Feuerstellung standen, und die kleinen lehmfarbenen Katen mit ihren dicken weißen Hauben und dem bis an die Fenster angeschaufelten Schnee kamen in Sicht. Aus den Schornsteinen stieg Rauch in die eisige Luft.
Leutnant Favere kam von der Spitze zu Oberleutnant Mareiner zurück.
»Ich verstehe nicht, dass der Russe Ihr Dorf noch nicht angegriffen hat«, sagte er.
»Seien Sie froh«, entgegnete Mareiner. »Auf diese Weise können Ihre Leute sich aufwärmen und sich von ihrem Schock erholen. Ich bringe Sie zu Hauptmann Martin. Er führt die Batterie, die in Lysselkowo liegt. Mit ihm können Sie beraten, was weiter geschehen soll.«
Sie erreichten das Dorf. Während die Italiener sich, von deutschen Soldaten bestaunt, auf dem Platz drängten, auf dem das Stalindenkmal aus Gips gestanden hatte, von dem nur noch die Beine vorhanden waren, geleitete Oberleutnant Mareiner, der seine Skier abgeschnallt hatte, den italienischen Tenente zum Batteriegefechtsstand.
Mareiner gab