Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
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»Sie denken also Schwester,« fragte sie »dass Gott jedes Opfer annimmt, und die Tat verzeiht, wenn der Beweggrund ein reiner ist?«
»Wer wollte das bezweifeln, Madame? Eine an sich tadelnswerte Handlung wird durch die Absicht, die uns leitet, verdienstlich.«
So fuhren sie noch lange fort, den Willen Gottes auseinanderzusetzen, seine Entscheidungen gewissermassen vorweg zu nehmen; sie schrieben ihm schliesslich ein Interesse an Dingen zu, die ihn in der Tat gar nichts angingen.
Alles dieses war natürlich geschickt verschleiert; aber jedes Wort der ehrwürdigen Schwester legte eine Bresche in die Widerstandskraft der Prostituierten. Dann lenkte die Unterhaltung sich auf das Ordenshaus, die Oberin, die Schwester selbst und ihre kleine Nachbarin, die Schwester Nicephora. Man hatte sie nach Havre berufen, um dort im Lazareth die Pflege der Blatternkranken zu übernehmen. Sie beschrieb das Aussehen dieser armen Soldaten und schilderte alle Einzelnheiten der Krankheit. Und während sie nun durch die Laune dieses Preussen zurückgehalten würden, stürbe vielleicht eine ganze Anzahl Franzosen, die durch ihre Pflege hätten gerettet werden können. Die Pflege kranker Soldaten sei ihre Spezialität. Sie wäre in der Krim, in Italien, in Österreich mitgewesen. Während sie so ihren Reisegefährten erzählte, entpuppte sie sich vor deren Augen plötzlich als eine jener wackren mutigen Ordensfrauen, die dafür geschaffen zu sein scheinen, im Kampfgewühl die Verwundeten aufzuheben und mit einem Wort die rohesten Schmierfinken zum Gehorsam zu bringen. Sie war eine echte Schwester Ra-ta-plan, deren gefurchtes mit zahllosen Löchern bedecktes Gesicht selbst ein Bild der Verwüstung des Krieges bot.
Als sie geendet hatte, sprach keiner ein Wort; so ausgezeichnet schienen ihre Ausführungen gewirkt zu haben.
Sofort nach dem Essen begab man sich schnell hinauf und erst ziemlich spät am anderen Morgen kamen die Reisenden wieder zusammen.
Das Frühstück verlief ruhig. Man wollte das Samenkorn, das die alte Schwester ausgestreut hatte, erst aufgehen lassen, um dann die Frucht umso besser einzuheimsen.
Die Gräfin schlug Nachmittags einen Spaziergang vor. Wie verabredet, nahm der Graf den Arm von Fett-Kloss und blieb mit ihr etwas hinter den anderen zurück.
Er sprach mit ihr in vertraulichem, väterlichem etwas herablassendem Tone, wie ihn gesetzte Herren bei solchen Mädchen gern anwenden. Er nannte sie »mein Kind,« behandelte sie zugleich aber ein wenig von oben herab, sich mit seiner unbestreitbaren Ehrenhaftigkeit brüstend.
»Sie ziehen also vor,« sagte er direkt auf sein Ziel lossteuernd, »uns mit Ihnen zugleich all den Gewalttätigkeiten auszusetzen, die eine Schlappe der preussischen Truppen zur Folge haben muss, statt in eine jener kleinen Gefälligkeiten einzuwilligen, die Sie doch sonst im Leben so oft gewährt haben?«
Fett-Kloss antwortete nichts.
Jetzt fasste er sie bei ihrer Gutherzigkeit, bei ihrer Vernunft, bei ihrem weichen Gemüt an. Er selbst wisse recht gut, stets der »Herr Graf« zu bleiben und doch dabei höflich, entgegenkommend und liebenswürdig zu sein, wenn es erforderlich wäre. Er pries den Dienst, den sie ihnen leisten würde, und sprach von ihrer Erkenntlichkeit. »Und dann weißt Du, mein Kind,« fuhr er sie plötzlich duzend fort, »er dürfte sich rühmen, ein Mädchen besessen zu haben, wie er sie bei sich zu Hause wohl selten finden wird.«
Fett-Kloss antwortete wieder nichts und eilte der Gesellschaft nach.
Sobald sie wieder zu Hause kamen, flüchtete sie auf ihr Zimmer und kam nicht wieder zum Vorschein. Unten war man in der höchsten Aufregung«. Was würde sie beginnen? Welch ein Missgeschick, wenn sie sich endgültig weigern würde.
Zu Diner-Stunde erwartete man sie vergeblich. Herr Follenvie erschien und verkündete, dass Fräulein Rousset sich unwohl fühle und man sich nur zu Tische setzen möchte. Alles spitzte die Ohren. »Ist es so weit?« fragte der Graf den Wirt ganz leise. »Jawohl.« Er hütete sich seinen Gefährten laut etwas zu sagen; aber er machte ihnen ein leichtes Zeichen mit dem Kopfe. Ein Seufzer der Erleichterung entstieg jeder Brust; alle Gesichter hellten sich auf. »Sapperlot!« schrie Loiseau »ich gebe Sekt, wenn es hier welchen gibt,« Madame Loiseau fiel vor Schreck fast auf den Rücken, als gleich darauf der Wirt mit vier Flaschen unterm Arm zurückkam. Jeder war jetzt lustig und mitteilsam geworden; eine ausgelassene Freude bewegte aller Herzen. Dem Grafen erschien jetzt plötzlich Frau Carré-Lamadon reizend und der Fabrikant sagte der Gräfin allerlei Artigkeiten. Die Unterhaltung wurde lebhaft und mit allerlei Scherzen gewürzt.
»Still!« rief plötzlich Loiseau mit ängstlicher Miene die Hände aufhebend. Alles schwieg überrascht, beinahe erschreckt. Dann spitzte er die Ohren machte »Pst« mit beiden Händen, hob die Augen zur Decke empor, lauschte nochmals und sagte dann seine gewöhnliche Miene wieder annehmend: »Beruhigen Sie sich; es geht alles gut.«
Man verstand ihn zuerst nicht; aber dann fing alles an zu lachen.
Nach einer halben Stunde wiederholte er denselben Witz und so mehrmals noch im Verlaufe des Abends. Er tat als ob er jemand im oberen Stock anriefe, ihm zweideutige gute Ratschläge gebe, wie sie in seinem Weinreisenden-Gehirn entstanden. Zuweilen murmelte er auch ein »Armes Mädchen!« zwischen den Zähnen, oder er rief: »Infamer Preusse, pack Dich.« Hin und wieder, wenn niemand daran dachte, rief er mit zitternder Stimme: »Genug, genug!«