Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
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Читать онлайн книгу Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant страница 34
– Sieh mich doch nicht immer so an, mein Kind!
Dann senkte er den Kopf.
Sobald sie ihm aber den Rücken gekehrt hatte, fühlte sie von Neuem sein Auge auf ihr ruhen. Wohin sie auch ging, überall verfolgte er sie mit seinen beharrlichen Blicken.
Manchmal, wenn sie in ihrem Gärtchen spazieren ging, erblickte sie ihn plötzlich in einem Gebüsche zusammengekauert, als ob er im Hinterhalt läge. Oder wenn sie in ihrer Haustür saß und Strümpfe ausbesserte, während er ein Gemüsebeet umgrub, blickte er sie bei der Arbeit mit heimtückischen Blicken unausgesetzt an.
Vergebens fragte sie ihn:
– Was hast du, mein Kleiner? Seit drei Jahren bist du so ganz anders geworden. Ich erkenne dich nicht mehr wieder. Sage mir doch, was du hast, was du denkst, ich beschwöre dich.
Er antwortete dann immer mit demselben ruhigen, ermüdeten Tone:
– Aber ich habe nichts, Tante.
Und wenn sie in ihn drang und ihn beschwor:
– Mein Kind, antworte mir doch, antworte mir doch, wenn ich dich frage. Wenn du wüsstest, welchen Kummer du mir bereitest, du würdest mir immer antworten und würdest mich nicht immer so anblicken. Hast du irgend ein Leid? Sage’s mir, ich werde dich trösten…
Dann ging er mit müdem Wesen und murmelte:
– Ich versichere dich, ich habe nichts.
Er war nicht viel größer geworden; er hatte immer noch das Ansehen eines Kindes, wiewohl er die Züge eines Mannes trug. Sie waren hart und doch unfertig. Er schien unvollendet, schlecht geraten und gleichsam nur hingeworfen zu sein, und beunruhigend war er wie ein Geheimnis. Ein verschlossenes, undurchdringliches Wesen, in dem jeden Augenblick eine tätige und gefährliche Geistesarbeit vor sich zu gehen schien.
Fräulein Source empfand das alles sehr wohl und schlief vor Angst nicht mehr. Schreckliche Beklemmungen, entsetzliche Träume quälten sie oft. Sie schloss sich in ihr Zimmer ein und verbarrikadierte ihre Tür; so ängstigte sie das Unbestimmte.
Wovor fürchtete sie sich? Sie wusste es selber nicht. Sie fürchtete sich vor allem, vor der Nacht, den Wänden, den Gestalten, die der Mond durch die geblümten weißen Vorhänge hindurchwarf, und vor allem – vor ihm!
Warum? Was hatte sie zu fürchten? Wusste sie es?
Und doch konnte sie so nicht länger leben. Sie war sicher, dass ein Unglück sie bedrohte, ein schreckliches Unglück.
Eines Morgens brach sie insgeheim auf und ging nach der Stadt zu ihren Verwandten. Sie erzählte ihnen alles mit bebender Stimme. Die beiden Frauen dachten, dass sie verrückt würde, und suchten sie zu beruhigen.
– Wenn ihr nur wüsstet, klagte sie, wie er mich von morgens bis abends anstarrt! Seine Augen verlassen mich nie. Zuweilen möchte ich am liebsten um Hilfe schreien und die Nachbarn herbeirufen, so fürchte ich mich. Aber was sollte ich ihnen sagen? Er tut mir ja nichts, als dass er mich anblickt.
– Ist er denn zuweilen brutal gegen dich? fragten die beiden Kousinen. Gibt er dir freche Antworten?
– Nein sagte sie, niemals. Er tut alles, was ich will, er arbeitet fleißig und ist die Sparsamkeit selbst, aber ich halte es vor Furcht nicht mehr aus. Er hat etwas im Kopfe, deß bin ich sicher, ganz sicher. Ich will nicht mehr so ganz allein mit ihm auf dem Lande bleiben.
Die Verwandten waren betroffen und stellten ihr vor, dass man sich wundern, dass man es nicht begreifen würde, und gaben ihr den Rat, ihre Befürchtungen und Pläne zu verschweigen, rieten ihr indessen nicht ab, nach der Stadt zu ziehen, denn sie hofften, dass dadurch die ganze Erbschaft noch an sie zurückfallen würde.
Sie versprachen ihr sogar, ihr beim Verkauf ihres Hauses behilflich zu sein, und wollten etwas andres in ihrer Nähe ausfindig machen.
Als Fräulein Source in ihr Heim zurückkehrte, war ihr der Kopf so wirr, dass sie beim geringsten Geräusch zusammenfuhr und ihre Hände bei der kleinsten Bewegung zu zittern begannen.
Sie ging dann noch zweimal zu ihren Verwandten, um sich mit ihnen zu besprechen, und war jetzt ganz entschlossen, nicht mehr so allein in ihrer Wohnung zu bleiben.
Endlich fand sie in der Vorstadt ein kleines Gartenhaus, das ihr zusagte, und das sie insgeheim kaufte.
Der Kontrakt wurde an einem Dienstag Morgen unterzeichnet, und Fräulein Source verbrachte den Rest des Tages mit Vorbereitungen für den Umzug.
Um acht Uhr abends stieg sie wieder in den Postwagen, der tausend Schritt vor ihrem Hause vorbeiging, und ließ an dem Punkte halten, wo der Kutscher sie gewöhnlich abzusetzen pflegte. Als sie ausstieg, rief der Mann ihr zu, indem er auf seine Pferde einhieb:
– Guten Abend, Fräulein Source, gute Nacht!
– Gute Nacht, Schwager Joseph, antwortete sie im Gehen.
Am anderen Morgen um halb acht Uhr, als der Briefträger seine Briefe nach dem Dorfe trug, bemerkte er auf dem Querweg nicht weit von der Straße eine große, noch frische Blutlache. »Halt!« sagte er sich, »hier hat einem die Nase geblutet.« Zehn Schritt weiter bemerkte er indessen ein – gleichfalls blutiges – Taschentuch und hob es auf. Es war von feinem Leinen. Als der Fußgänger sich dem Graben näherte, glaubte er einen seltsamen Gegenstand zu sehen.
Fräulein Source lag auf der Grabensohle mit durchgeschnittener Kehle im Gras.
Eine Stunde später standen die Gendarmen, der Untersuchungsrichter und viele Beamte um die Leiche herum und stellten Vermutungen an.
Die beiden Verwandten wurden als Zeugen vorgefordert und erzählten die Befürchtungen und letzten Pläne der alten Jungfer.
Der Pflegesohn wurde festgenommen. Seit dem Tode seiner Adoptiv-Mutter weinte er vom Morgen bis in die Nacht und war – wenigstens scheinbar – auf das tiefste