Zucker im Tank. Andreas Zwengel
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Tibor hatte nie verstanden, weshalb sein Freund es vorgezogen hatte, bei dem alten Querkopf zu leben. Zugegeben, eine richtige Familie hatte Felix nie besessen, aber ausgerechnet Gernhardt? Onkel Leo war ein harter Knochen. Tibor hatte nicht lange gebraucht, um das festzustellen. Genau genommen war es einer der ersten Eindrücke gewesen, als er ihn kennenlernte. Felix verhielt sich damals in Gegenwart seines Onkels zurückhaltend, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, denn Gernhardt konnte ihn mit einer einzigen ätzenden Bemerkung auf das Mindestmaß zurechtstutzen. Und dass er es gerne tat, sprach nicht unbedingt für ihn.
“Da drüben vor der Scheune liegt ein toter Hund“, sagte Tibor leicht erschrocken.
“Das ist Groucho, der schläft immer so.“
Aus dem Wohnzimmer dröhnte der Fernseher in ohrenbetäubender Lautstärke. Leo Gernhardt saß in seinem alten, damals schon hässlichen Fernsehsessel und betrachtete mit ausdruckslosem Gesicht die Bilder eines Zugunglücks.
“Leo, erinnerst du dich noch an Tibor Hendricks? Er ist hier, um seine alte Heimat zu besuchen.“
Gernhardt drehte den Kopf und musterte Tibor. Sogar wenn er saß, wirkte er kernig und fit. Die Unterarme, die aus den hochgekrempelten Ärmeln seines karierten Arbeitshemdes hervorlugten, waren hart und sehnig. Doch das war nichts, verglichen mit seinem Gesicht. Eine steinerne, tief gefurchte Gebirgslandschaft mit zwei stechenden Augen. Das Auffälligste an ihm, damals wie heute, war jedoch der altmodische Backenbart. Diese endlos wuchernden Koteletten, die in grauen Büscheln bis in die Kinnpartie reichten und ihm etwas Wildes und Animalisches verliehen.
“Lange nicht gesehen, wo hast du deine Haare gelassen?“, knurrte Gernhardt.
Tibor klopfte hektisch die Taschen seines Anzugs ab. “Nanu, irgendwo müssen sie doch sein“, flüsterte er mit gespielter Panik.
“Prima, noch so ein Spaßvogel“, murmelte Gernhardt und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Für ihn war das Gespräch beendet. Er konnte sich nicht an Tibor erinnern. Die alten Schulfreunde seines Neffen existierten nur als diffuser, lärmender Schleier in seiner Erinnerung. Der Spruch mit den Haaren war ein Schuss ins Blaue gewesen, da die wenigsten Männer bereits in ihren Zwanzigern eine Glatze hatten. Jedenfalls nicht freiwillig. Aber war Tibor nun der trockene Alkoholiker, der um das Sorgerecht für seine Tochter kämpfte, oder der Trottel, der seit Jahren vergeblich versuchte, eine richtige Fernsehshow zu bekommen? Die Geschichten kreisten in seinem Kopf unsortiert durcheinander. Felix hielt ihn immer auf dem Laufenden und er nickte nur dazu, als würden ihm die Namen wirklich etwas sagen.
“Er hat sich überhaupt nicht verändert“, bemerkte Tibor, als sie nach oben gingen.
“Er ist älter geworden.“
Felix Zimmer war eingerichtet wie eine Studentenbude. Die beneidenswerte Unbekümmertheit, mit der alle Gegenstände wie durch Zentrifugalkraft im Raum verteilt waren, zauberte ein Lächeln auf Tibors Gesicht. Sie waren im Begriff, sich zu setzen, als o
“FELIX!“ Für gewöhnlich sprach Leo Gernhardt mit einer leisen, heiseren Stimme, die seltsam abgehackt klang, so als würde ihm gegen Ende jedes Satzes der Atem zum Weitersprechen fehlen. Doch diesmal schien er über ausreichend Luft zu verfügen.
“Das ist mein Onkel“, erklärte Felix überflüssigerweise. “Ich sehe mal besser nach, was er wieder hat.“
Tibor folgte ihm nach unten ins Wohnzimmer, wo Gernhardt mit hochrotem Gesicht saß und schimpfte. “Ich habe immer gesagt, dass es nicht gut geht, ich hab es von Anfang an gesagt, aber auf mich hört ja keiner.“
“Was ist denn?“
“oman kriegt die Natur einfach nicht aus den Viechern raus, aber das interessiert ja keinen, bis er eines Tages jemanden zerfleischt. Verfluchter Köter.“
“Was ist denn los? Haben wir wieder zu viel Jod im Trinkwasser?“, fragte Felix und blickte zu Groucho, der träge in der Ecke lag.
“Red nicht solchen Mist!“
“Was ist passiert?“
“Was passiert ist? Der verdammte Köter hat meine Blutdruckpillen gefressen.“
“Sie werden ihm schon nicht schaden.“
“Wen interessiert der Hund? Mir wird es schaden. Ich brauche diese Pille, sonst schießen meine Werte in die Wolken.“
“Ich glaube, er steigt schon“, bemerkte Felix.
“Dann besorge mir eine Pille.“
“Woher?“
“Aus meinem Nachtisch, woher sonst? Muss man dir denn jeden Handgriff erklären? Bring gleich zwei mit, ich glaube, die werde ich brauchen“, rief Gernhardt seinem Neffen hinterher, dann erst merkte er, dass er sich allein mit Tibor im Wohnzimmer befand. Er hatte keine Lust auf Small Talk. Momentan nicht und auch sonst nie.
“Ginsberg hat sich inzwischen ganz schön herausgemacht“, bemerkte Tibor, um nicht weiter peinlich berührt im Raum stehen zu müssen. Er betrachtete einen gerahmten Zeitungsausschnitt an der Wand mit einem Bild von Garth und Gernhardt bei der Bürgermeisterwahl. Garth hatte damals mit überwältigender Mehrheit gewonnen und Gernhardt konnte nach Hause gehen. Ginsberg hat den Fortschritt gewählt, protzte die Überschrift.
Gernhardt gab einen missmutigen Ton von sich. “Lass dich von der friedlichen Oberfläche nicht täuschen. Hier geht es zu wie im Wilden Westen.“
Felix kam zurück und drückte seinem Onkel zwei Pillen in die Hand, die dieser trocken herunterschluckte.
“Ich habe damals nicht viel von Garth mitbekommen“, sagte Tibor. War zu sehr mit meinen Fluchtplänen beschäftigt, dachte er.
Gernhardt schenkte ihm nun doch seine Aufmerksamkeit. “Man muss schon den Hut vor Garth ziehen. Er hat sich den Ort so schnell unter den Nagel gerissen, dass es kaum einer mitbekommen hat. Und die Speichellecker im Dorf haben sich ihm sofort an den Hals geschmissen. Er wusste, wie er die Menschen zu nehmen hat. Alle waren zufrieden und keiner kam auf die Idee, nach dem Preis zu fragen. Sie haben einfach vergessen, was sie ihren Kindern bei jeder Gelegenheit predigten, dass man nämlich im Leben nichts umsonst bekommt. ¡ Setzt euch doch“, bot Gernhardt überraschend an, und sie waren zu perplex, um schnell genug eine akzeptable Ausrede zu erfinden. Felix hätte es Tibor gerne erspart, doch der schien sich für Gernhardts Gerede tatsächlich zu interessieren.
“Er stellt sich als einer von ihnen dar“, erklärte Gernhardt, “obwohl er in einem millionenschweren Palast wohnt, und sie glauben es. Sie fressen ihm aus der Hand und lassen ihm alles durchgehen. Nur ein Beispiel: Er betrog seine erste Frau pausenlos. Als sie endgültig genug hatte und die Scheidung wollte, erstritt Villeroy seinem Chef vor Gericht das Sorgerecht für die Kinder mit den geschmacklosesten Verleumdungen, für die seine kranke Fantasie ausreichte. So ein Verhalten hätten die Leute hier keinem ihrer Nachbarn durchgehen lassen. Und kaum war die Scheidung durch, heiratete er diesen Filmstar. Ein ziemlicher Feger. Aber kein blondes Dummchen. Sie hat mächtig was auf dem Kasten und ist ziemlich gerissen. Jeden anderen hätten sie dafür an den Pranger gestellt, aber nicht Garth. Nein, ihn nicht. Sie könnte fast seine Tochter sein,