Emscher Zorn. Mareike Löhnert

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Emscher Zorn - Mareike Löhnert

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lassen. Kannte mal einen, der hier gearbeitet hat und mir einen Gefallen schuldig war.«

      Sie kamen oben an, stiegen eine Treppe hinauf, kletterten durch eine Luke und befanden sich auf dem riesigen Flachdach des Gebäudes.

      »Das ist mein Lieblingsplatz.« Nelu wirkte stolz – Jakob staunte.

      Der Himmel tat sich wie ein nachtschwarzes Zelt über ihnen auf. Viele Tausend Sterne strahlten auf sie hinab und schimmerten hell. Der U-Turm, das ehemalige Gär- und Lagerhochhaus der Dortmunder Union-Brauerei, der mit seinem Programm inzwischen nur noch Studenten, Kunstaffen und langweilige Kreativitätsvernarrte anzog, schien ganz nah zu sein. Die wechselnden Bilder der Kunstinstallation am Dach des Turmes durchbrachen in leuchtenden Farben die Nacht.

      »Wow«, stieß Jakob hervor.

      Sie setzten sich, lehnten sich mit den Rücken an die Steine eines der quadratisch ummauerten Schornsteine und sahen andächtig in den Himmel.

      »Echt schön«, murmelte Jakob.

      Nelu zog den Wodka aus der Tasche, öffnete ihn, trank einen großen Schluck und reichte die Flasche weiter an Jakob. Der Wodka brannte angenehm in der Kehle und fühlte sich im Bauch wohlig und warm an, so als würde er dort hingehören. Die angenehme Stille wurde durch den schrillen Klingelton von Nelus Handy unterbrochen.

      »Fuck«, schimpfte Nelu genervt, »hab vergessen, das Ding auszuschalten. Tut mir leid, Mann.«

      Er sah auf das Display.

      »Einmal muss ich noch rangehen. Dann stell ich das Teil auf lautlos, ich verspreche es«, sagte er entschuldigend. »Gisela«, schnurrte er in den Hörer, »ja, meinem Bruder scheint es tatsächlich besser zu gehen. Ich danke dir noch mal. Vielen, vielen Dank. Ich wüsste nicht, was ohne dich aus ihm geworden wäre, meine Sonne. Was? Nein, heute kann ich ihn nicht alleine lassen. Morgen, morgen sehen wir uns, Liebling. Oh, mein Bruder ruft.« Er stieß Jakob mit der Schulter an.

      »Rufe, dass ich zu dir kommen soll. Ich heiße Rupi«, zischte er, »worauf wartest du?«

      Jakob räusperte sich, er kam sich blöd vor.

      »Rupi, kommst du bitte?«, rief er unsicher.

      Nelu sah ihn erwartungsvoll an und hielt den Hörer in seine Richtung.

      »Rupi, jetzt komm endlich. Ich warte auf dich«, versuchte Jakob es erneut.

      Nelu schien zufrieden und säuselte weiter in den Hörer, dann beendete er das Gespräch und seufzte schwer.

      »Was sind das für Frauen, die dich immer anrufen?«, fragte Jakob vorsichtig.

      »Das ist einer meiner Jobs. Ich bin so was wie ein Schauspieler. Von irgendwoher muss ja die Kohle kommen.«

      »Und was ist mit deinem Bruder?«

      Nelu sah ihn entgeistert an, dann brach er in lautes Gelächter aus. »Das ist nicht dein Ernst, Mann. Ich habe keinen Bruder, und selbst wenn ich einen hätte, würde mir sein Schicksal am Arsch vorbeigehen.« Er krümmte sich vor Lachen und vergrub sein Gesicht zwischen den angezogenen Knien. Seine Schultern bebten.

      Es dauerte lange, bis er sich beruhigte und weitersprechen konnte. »Ich reiße so ein paar alte Muttis auf, die einsam und alleine sind, und mit ein paar herzerweichenden Storys ziehe ich ihnen das Geld aus der Tasche. Die kranke Brudernummer kommt immer wieder gut. Das Zeitmanagement ist halt manchmal nicht so einfach. Die alten Tanten fordern immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Ich sag es dir, sie versuchen einen auszusaugen. Wenn es zu schlimm wird, muss man sich das nächste Opfer suchen. Man muss da flexibel sein. Ist manchmal echt anstrengend.« Er schüttelte betrübt den Kopf.

      »Das hört sich an, als wärst du eine Hure«, rutschte es Jakob heraus. Schnell sah er zu Nelu herüber, doch der schien nicht im Geringsten beleidigt zu sein.

      »Meinst du, ich schlafe mit diesen faltigen Steinzeitomas? Das hätten sie zwar gerne, aber ich halte sie an der langen Leine. Sie dürfen mich gerne bekochen und lieb zu mir sein, mal ein bisschen antatschen und knutschen ist drin, aber mehr nicht, das macht mich für sie nur noch begehrenswerter. Ich kann dich ja mal mitnehmen und dir eine vorstellen. Vielleicht stehst du ja auf ältere Semester. Monika ist noch die Schärfste von allen, die springt dich gleich an, wenn sie dich sieht.« Fragend hob er die Augenbrauen.

      »Ne, danke. Lass mal«, wehrte Jakob schnell ab.

      Nelu betrachtete ihn und fing an zu grinsen. »Ich glaub es nicht. Du bist noch Jungfrau.«

      Jakob schwieg.

      »Krass«, meinte Nelu und nahm einen großen Schluck aus der Flasche. Sie tranken. Es war still oben auf dem Dach.

      Die Geräusche der Stadt, der Autolärm und das Gegröle der Menschen drangen nur gedämpft zu ihnen hinauf.

      Die ganze Welt schien unter einem Schleier zu liegen und war meilenweit entfernt von ihnen.

      Hier oben waren sie allein. Unbeobachtet und unsichtbar für alle anderen. Weggetaucht aus dem normalen Leben.

      Jakob fühlte sich glücklich. Das warme, spürbare Pochen in seinem Herzen war ihm so fremd geworden, dass er sich fühlte, als wäre er aus seiner Haut geschlüpft und ein anderer Mensch geworden.

      Sie saßen lange einfach nur da, Zeit spielte keine Rolle mehr.

      Der Wodka tat sein Bestes dazu, dass Jakob alles egal wurde.

      Nur dieser Moment war wichtig, alles andere hatte keine Bedeutung mehr. Der langweilige, nicht enden wollende Alltag, mit all seinen Problemen, schien meilenweit entfernt zu sein.

      Nelu sprang energiegeladen auf.

      »Jetzt gehen wir feiern und machen richtig einen drauf«, beschloss er übermütig, breitete beide Arme aus und begann sich, den Kopf in den Nacken gelegt, im Kreis zu drehen.

      »Laute Musik und geile Weiber, das ist es, was ich jetzt brauche«, schrie er in den Himmel.

      Jakob druckste herum. »Du, äh, ich hab kein Geld und bin auch nicht richtig angezogen.« Er deutete auf seine übliche Jogginghose.

      »Scheiß drauf. Ich kenne jeden Türsteher der Stadt. Wir werden überall mit offenen Armen empfangen, egal, was du trägst. Wir machen uns jetzt auf ins Gewerbegebiet Spähenfelde und gehen in die Traumfabrik. Da ist auch am Montag richtig was los.« Entschlossen packte er Jakobs Hand und zog ihn auf die Beine. Seine Euphorie war ansteckend.

      Jakob war noch nie in der Traumfabrik gewesen, die in Partykreisen liebevoll als Asi-Park bezeichnet wurde. Er hatte sowieso nie am nächtlichen Partyleben teilgenommen, da ihm für so etwas das Geld fehlte. Das Einzige, was er sich manchmal leistete, waren ein paar Bier und Schnäpse in Gustavs Eckkneipe.

      Mach dir nicht immer so viele Gedanken, schalt er sich selbst.

      Er ließ sich von Nelu anstecken und von seiner Begeisterung mitreißen. Es war einfach. Zusammen mit Nelu war alles leicht. Jakob hatte das Gefühl, er würde fliegen können, wenn er es nur versuchen würde.

      Kapitel 8 – Tim

      Tim König wünschte sich den Winter herbei.

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