Witterung – Lauf so schnell du kannst. Heike Ulrich
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Gestern hatte es geregnet, doch heute würde es ein schöner Tag werden. Durch die Nebelschleier drangen die ersten Sonnenstrahlen. Vom Tau war die Wiese noch feucht und roch würzig. Silbrige Wasserperlchen auf kleinen Spinnennetzen blitzten plötzlich überall auf. Was für ein Zauber, hätte seine Mutter, Gott hab sie selig, vermutlich jetzt gesagt. Ein schlechtes Gewissen beschlich ihn. Denn seine Mutter und er hatten es gut miteinander gehabt – das beste Verhältnis überhaupt, ein Herz und eine Seele, wie man so schön sagte. Nur als es mit ihr zu Ende gegangen war, hatte er, das einzige Kind seiner Mutter, ihr nicht beistehen können – oder wollen. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt und so gesehen auch nie vermisst.
Er pfiff vor sich hin, während er seine beiden Möpse von der Leine ließ. Sie versuchten, Schritt mit ihm zu halten, fingen aber bald an zu japsen, und Lude verlangsamte seine Schritte, während er die Umgebung aufmerksam absuchte. Außer ihm schien noch niemand im Park unterwegs zu sein, keine anderen Hundebesitzer – erstaunlich.
Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Er war zufrieden, die Geschäfte liefen gut – sehr gut sogar. Langsam konnte er sich zur Ruhe setzen. Nur, wer konnte seinen Platz einnehmen? Er war unverheiratet, und Kinder waren nicht vorhanden. Jedenfalls keine, von denen er gewusst hätte.
Er brauchte jemanden, dem er vertrauen konnte – es musste jemand mit Grips sein, kein Besserwisser. Gehorsam und jung musste er sein – Jan Husemann zum Beispiel! War der eine gute Idee? Er dachte einen Moment nach. Es würde sich zeigen – nur nichts überstürzen.
Zufrieden dachte er an seine klugen Entscheidungen, die er all die Jahre in geschäftlichen Angelegenheiten getroffen hatte – nicht selten gegen die Empfehlungen seiner Finanzberater und Geschäftspartner, und das zahlte sich jetzt eben aus. Er war reich – richtig reich! Neben einer Villa in Hamburg-Nienstedten besaß er diverse Grundstücke in ganz Deutschland und ein Mietshaus in San Francisco. Dort häufig unterwegs, hielt er in besagtem Haus das ganze Jahr über ein Appartement für sich und seine Kunden frei, mit Blick aufs Meer, wenn man oben auf der Dachterrasse mit Swimmingpool stand.
Doch seine Liebe galt einem Haus, das gerade fertiggestellt wurde, in Thailand, mit Blick aufs Meer, auf einer felsigen Anhöhe – von wegen Tsunami und so.
Lude plante alles. Bloß nichts dem Zufall überlassen – Sicherheit in allen Bereichen war das A und O. Feste Rituale bestimmten sein Leben, dabei war er zwanghaft und übte auf alles und jeden Kontrolle aus. Dieses Verhalten hassten seine Leute. Doch sie kannten den Grund nicht. Das Unvorhersehbare machte Lude Angst, wie eben auch das Unabänderliche – kurz, Lude fürchtete sich vor dem Tod.
Er nahm noch einen letzten, tiefen Zug von seiner Zigarette, warf dann den Stummel zu Boden und trat ihn aus. Er blies genüsslich einen Rauchring in die Luft und blickte ihm nach. In Thailand würde er sich nicht mehr die Nächte um die Ohren schlagen, wie bisher. Endlich mal Zeit haben, regelmäßige Tagesabläufe, vielleicht ein bisschen Sport treiben, den Blick aufs Meer genießen, ach und ganz wichtig – einen eigenen Koch, der für ihn gesunde Kost zubereitete. Er lächelte, es war alles bis aufs Kleinste für seine Zeit „danach“ geplant. Er würde sich verwöhnen lassen. Er grinste und gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich ... ah, Ganzkörpermassage – auch sein Schwanz hatte es bitter nötig! Er dachte an die Kunststückchen der kleinen Thaimädchen und -jungen. Es war ihm egal – beide Geschlechter hatten ihre Vorzüge. Was ihn betraf: Er war in beide Richtungen spitz und würde sie für ihre Dienste gut bezahlen. So konnte man einem angenehmen und hoffentlich langen Lebensabend beruhigt entgegensehen.
Er wunderte sich, immer noch war es erstaunlich still. Nur aus der Ferne hörte man, wenn man sich konzentrierte, das Rauschen des Großstadtverkehrs. Er liebte seine Spaziergänge bei Tagesanbruch – nach dem Geschäft.
Lude musste plötzlich daran denken, wie er vor ein paar Tagen, hier in der Nähe, nachmittags ein paar Runden gedreht hatte. Dabei war er immer wieder an einem Haus aus der Kaiserzeit vorbeigekommen, das renoviert wurde und gerade neuen Stuck bekam. Bei der ersten Runde hatte einer der Stuckateure seinem Kollegen einen Vortrag darüber gehalten, wie man am besten kackte, ohne dass es im Toilettenraum hinterher stank. Man musste zeitgleich, während die Wurst ins Klo flutschte, die Spülung betätigen – ganz einfach. Wo denn dann die Gemütlichkeit der „Sitzung“ bliebe, hatte der andere Kollege wissen wollen. Lude war schon zu weit weg gewesen, um die Antwort zu hören, gab aber dem, der gefragt hatte, recht. Themen hatten die Leute! Doch er wunderte sich nicht. Die meisten Menschen waren schlicht. Nahrungsaufnahme, Verdauung, Triebbefriedigung. Wenn man das wusste, konnte man damit gut Geschäfte machen. Und war er selbst anders?
Als er bei seiner zweiten Runde wieder an den Handwerkern vorbeigekommen war, war es um die Welt, insbesondere die westliche, gegangen. Zwar würde viel über Empathie gesprochen, doch in Wahrheit sei man ausschließlich am gegenseitigen Benutzen interessiert. Dieses Verhalten bringe immer mehr Narzissten hervor. Das Leben drehe sich nur noch um das eigene Ego, ohne Gewissen und ohne Mitgefühl. Lude hatte unwillkürlich in sich hineinschmunzeln müssen, denn genau von diesen Personengruppen lebte er, und zwar gut.
Und dann, bei der letzten Runde, da hatte sich nun der andere Kollege echauffiert – über Leute, die ständig und überall Kopfhörer trugen und so laut Musik hörten, dass die Umgebung gezwungen war mitzuhören. Die reinste Folter! Dann hatte er einen imaginären Revolver gezogen, ihn an seine Schläfe gesetzt und abgedrückt.
Lude hielt abrupt inne. Apropos ... er begann, in der geräumigen Innentasche seiner weiten Jacke zu kramen ... ah, da waren sie – seine Kopfhörer. Er stöpselte sie ins Ohr, regulierte die Lautstärke und beschleunigte seinen Schritt.
„Slave to the Rhythm“ – er liebte Grace Jones.
Als seine Hunde plötzlich stehen blieben und sich neugierig umblickten, bemerkte er diesen Umstand nicht. Eine krächzende Stimme lockte mit Leckerchen. Lude bemerkte auch dies nicht. Nur seine Hunde drehten plötzlich ab, um der schmeichelnden Stimme aus dem Gebüsch zu folgen, während ihre Schweineschwänzchen sich aufgeregt drehten in Erwartung der Leckerlis.
Eine aufgeschreckte Rabenkrähe flog plötzlich aus dem Gebüsch.
Lude blieb abrupt stehen – wo zum Teufel steckten seine Möpse? Er wollte sich gerade umdrehen und nach seinen Lieblingen pfeifen, als er ein Geräusch hinter sich hörte und sein Kopf fest nach hinten gezogen wurde. Er hörte das Knacken der Wirbel, spürte den Schmerz und erahnte mehr als dass er sie sah – die Klinge, mit der der präzise und tödliche Schnitt ausgeführt wurde.
Noch während er stürzte, sah er, wie in Zeitlupe, den Blutschwall, der sich auf den Boden ergoss und das Gras rot färbte. Ein paar Blutstropfen waren weiter weg auf die filigranen Spinnweben im Gras gespritzt. Lude sah es, während er zu Boden ging, und wunderte sich, wie schön es aussah, während alles bizarr und unwirklich wurde – sein Geist zunehmend dahintrieb.
Von irgendwoher, weit weg, wie durch Watte, drang immer noch Grace Jones zu ihm durch – „Slave to the Rhythm“, was für ein Song. Dann sah er das Paar Turnschuhe direkt vor seinem Blickfeld auftauchen. Irgendetwas war komisch, doch er folgte diesem Gedanken nicht mehr. Er seufzte, rang nach Luft und hörte sein eigenes Gurgeln. Ein letztes Mal bäumte er sich gegen den heftigen Schmerz auf. Durch die gespreizten Beine seines Mörders glitt sein letzter Blick zu den glitzernden Spinnennetzen. Wie bei einem sauguten Foto, dachte er und spürte plötzlich keinen Schmerz mehr.
Dann wurde alles still.