Heidejagd. Angela L. Forster
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„Hast du nicht um Hilfe gerufen?“
„Doch, natürlich. Ja, ich glaub schon. Ich weiß es nicht. Ich bin nur gerannt und gerannt. Aber ich war ja schon fast wieder an der Brücke und die anderen noch irgendwo im Wald. Hinter mir dieses unheimliche Schnaufen und Knurren. Auf der Brücke bin ich gestolpert und über etwas Weiches gefallen. Als ich aufstand, sah ich, dass es Hendrik ist, über den ich gefallen war. Überall war Blut. Dann kam Klara über die Brücke gerannt.“
„Klara?“
„Ja, sie ist meine beste Freundin. Amanda und Kristina auch, aber Klara und ich sind auf einer Wellenlänge. Wir wollen beide nach dem Abitur in Heidelberg Medizin studieren.“
„Verstehe. Wie ging es weiter? Was war mit der Bestie?“
„Die war verschwunden. Glücklicherweise kamen Max und Kristina aus dem Wald. Max hat alle auf ihren Handys angerufen und gesagt, sie sollen sofort zur Brücke kommen. Wir waren so entsetzt über … Hendrik war ein toller Lehrer.“
„Du hast deinen Biologielehrer mit Vornamen angesprochen?“
„Das haben wir alle, er war Vertrauenslehrer. Er war echt cool.“
„Habt ihr euren Lehrer auf der Brücke angefasst?“
„Er war tot und voller Blut! Nein!“ Angewidert verzog Lea das Gesicht. Ihre Stirn- und Nasenpartie krauste sich wie bei einer alten Frau. „Natürlich haben wir ihn nicht angefasst! Nur ich, ich bin ja über ihn gestolpert und …“ Lea wischte ihre Handflächen über die Seiten ihrer Jeans.
„Haben deine Schulkameraden die Bestie gesehen?“
„Ich sag doch, die waren nicht in meiner Nähe. Klar hab ich ihnen erzählt, dass mich ein Werwolf verfolgt hat, aber Peer meinte, ich sei verrückt, das wäre wohl mein Running Gag des Tages und ich hätte zu viele Horrorfilme gesehen. Jannik hat gesagt, ich hab ihm wohl einen Joint geklaut und heimlich im Wald geraucht. Sie haben mich ausgelacht.“
„Und Maximilian Grünhagen?“
„Der hat natürlich mitgelacht. Klar. Wir Mädchen fanden es nicht lustig, außer Kristina, die hat sich zu den Jungs gesellt. Das hat mich echt geärgert, die kann sich meine Freundschaft abschminken. Aber irgendwie war das klar. Kristina von Kleist, reich und verwöhnt. Ihre Partys sind begehrt. Wer bei den von Kleists eingeladen wird, der gehört dazu. Ihnen gehört das riesige Gestüt am Ortsrand. Es ist noch größer als das Reiterhotel der Bachs in Rehlingen.“ Lea verdrehte die Augen. „Mich interessiert dieses Gehabe nicht. Wer hat das größte Haus, Boot und Auto?“
„Wo war Konstantin? Hat er dich auch ausgelacht?“
„Nein. Konstantin hat sich mit Peer, Max und Jannik gestritten. Sie sollten mich in Ruhe lassen, sonst schickte er ihnen seine Rechte, das wäre dann der Running Gag des Tages, nicht ihr blödes Lachen.“ Lea strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die an ihrer nassen Wange klebte. Über ihrer rechten Augenbraue und der rechten Wange hatte sie eine blutende Schürfwunde, und ihre Hände waren von Büschen und Zweigen zerkratzt. Auf ihrem dunkelblauen Blouson und ihrer Bluejeans zeigten sich Blutspuren, die von ihrem Sturz über ihren Lehrer herrührten.
„Er wollte es gleich mit allen dreien aufnehmen? Du hast einen tollen Freund, Lea“, sagte Inka, dann: „Aber wieder zurück. Hat Konstantin gesagt, warum er nicht zu eurem verabredeten Treffpunkt gekommen ist?“
„Ich hab gar nicht gefragt. Ich war nur froh, dass er bei mir war.“
„Natürlich. Ihr standet inzwischen alle auf der Brücke. Was geschah weiter?“
„Klara sagte, wir müssen sofort die Polizei rufen. Peer riss ihr aber das Handy aus der Hand. Er meinte, niemals würde er einen toten Biolehrer melden und schon gar keinen Werwolf. Wenn rauskäme, dass sie ein Paintballspiel veranstaltet hätten, er die Sachen aus der Halle des Kumpels seines Vaters heimlich ausgeliehen hätte, könne er sich für die nächsten Monate im Keller einquartieren. Sein Alter würde garantiert vor Wut kochen und ihm alle Vorzüge einschließlich der Kreditkarte streichen. Mir war das egal, ich hab mein Handy aus der Hosentasche gezogen und die Hundertzehn gerufen. Auch Jannik hat geflucht und mich wieder als Bitch beschimpft. War logisch, dass Ärger mit der Polizei auch Ärger mit den Eltern bedeutete, so angetrunken, wie er war. Peer sagte, er würde abhauen, auf den Zoff hätte er keinen Bock. Konstantin hielt ihn am Arm fest. Er müsse dableiben, wie wir anderen. Wenn nicht, hielte er garantiert nicht den Mund, sondern würde rausposaunen, wer am Spiel teilgenommen hat. Peer ist trotzdem abgehauen. Jannik auch, er meinte, seine Alten würden das schon klären.“
„Wie hat er das gemeint? Klären?“
„Seine Eltern sind Rechtsanwälte. Macht Jannik Unsinn … na ja, er ist von den Herzog-Brüdern das schwarze Schaf in der Familie, aber seine Eltern pauken ihn immer wieder aus der Scheiße.“
Inka nickte. „Das soll es geben.“
„Max und Jannik sind Peer über die Laufstrecke der Seepromenade hinterher, die wir einmal die Woche mit unserem Sportlehrer laufen. Doch weit sind sie nicht gekommen, weil ein Streifenwagen die Auffahrt zum See hochkam und sie einfangen hat. Diese Idioten.“
„Habt ihr den Fußabdruck über dem Kopf eures Lehrers gesehen?“
„Ja klar, aber dass mich ein stinkendes Ungeheuer, dieser Werwolf, verfolgt hat, hat trotzdem niemand geglaubt. Selbst Konstantin hat mich skeptisch angesehen. Ich kann es ja selber nicht glauben, aber es war so. Ich schwöre es. Einfach grauenhaft. Dieses Vieh wollte mich töten.“
„Und das geschah, bevor du Hendrik gefunden hast. Ist das richtig?“, vergewisserte sich Inka erneut.
„Ja, diese stinkende Bestie hat mich bis auf die Brücke gejagt, bis ich über Hendrik gestolpert bin. Als ich aufgestanden bin, war sie plötzlich verschwunden und Klara kam mir entgegen.“
„Und das Zeichen der …“
„Sie meinen die Wolfsangel“, nahm Lea Inka das Wort aus dem Mund. „Sicher haben wir das gesehen. Taucht ja geschichtlich im Unterricht immer wieder auf. Hermann Löns, Hitler, Himmler und so. Bei uns an der Hofeinfahrt liegt auch ein Grenzstein mit dem Zeichen.“
„Ja, der ist vielerorts zu finden“, bestätigte Inka. Sie erinnerte sich an ihren Vater, als der vor dem großen grauen Grenzstein an ihrer Hofeinfahrt stand. Mutter wollte den Stein entfernen, aber Vater war dagegen, weil es ein Stück Geschichte sei. Irgendwann pflanzte Mutter Bodendeckerpflanzen um den Stein, die im Laufe der Jahre mit immergrünen Blättern den Stein und seine Geschichte fest umschlossen. „Wie spät war es, als du Hendrik gefunden hast?“
„Es muss halb zwei gewesen sein. Es war so … so schrecklich“, flüsterte Lea. Tränen rannen über das Gesicht der Schülerin. „Hendrik war ein wirklich netter Lehrer“, schniefte sie. „Ich hör noch immer die schweren dumpfen Schritte, das