Elisabeth Reinharz' Ehe. Es lebe die Kunst!. Clara Viebig
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„Adieu, liebes Fräulein!“ Alinde war sehr freundlich. „Sie besuchen mich also?“
Elisabeth stand schon draussen, ihr Gesicht nickte noch einmal in den Wagen zurück. „Sehr gern!“ — — —
Hastig stieg Elisabeth die vier Treppen hinauf zu ihrer Gartenwohnung. Gartenwohnung? Nichts als Dächer, lauter Dächer. Tief unten ein enger Hof mit einem kleinen Rasenfleck in der Mitte. Wie im Traum war sich das Mädchen hier anfangs vorgekommen; sie, die immer gewohut gewesen war, gleich aus der Stube im Garten zu sein, sie musste nun viele, viele Stufen hinauf- und hinabsteigen. Merkwürdig, wie das ganze Berliner Leben, war auch das: immer in Hut und Handschuhen gehen, nie einen Satz über Gräben machen und im Schlendergang den Wald durchstreifen. Rasch genug hatte sie sich eingewöhnt, drei Monate war sie erst hier. Sie nahm die Treppen wie selbstverständlich.
Sie leuchtete sich jetzt mit dem Wachszündhölzchen und schloss geräuschlos die Tür ihrer Wohnung auf. Da war die Küche — und da die zwei Stuben. Auf den Zehen ging Elisabeth, um die alte Mile nicht zu stören, die hinter einem Vorhang in der kleinen Küche schnarchte.
Langsam, wie träumend, legte sie ihre Kleider ab. So spät war sie in ihrem Leben noch nicht zu Bett gegangen, nur vor dreiviertel Jahren im Mai, als der Grossonkel die Augen geschlossen hatte. Sie musste jetzt so sehr daran denken, damals war sie unglücklich gewesen, und heute? So glücklich!
Damals sangen die Nachtigallen draussen im dunklen Landgarten, durch die geöffneten Fenster des Sterbezimmers brachte der Nachtwind einen Duftstrom von den ersten Blüten des Jahres. Im Stall brüllten dumpf die Kühe, die Pferde schnauften, Nero winselte im Hausflur, und die Katze schlich miauend um die Tür — vertraute Stimmen, die ihren Herrn riefen.
Heute alles still. Das Geräusch der grossen Stadr verstummt an der Grenze von Nacht und Morgen. Es war drei Uhr. Ganz allein ...!
Elisabeth sah sich um. Da lag das schwarzseidene Kleid überm Stuhl, die weissen Spitzenrüschen um Hals und Ärmel waren zerdrückt, die weissen Rosen, die Frau Leonore ihr an die Brust geheftet, abgeknickt. Die kleine Küchenlampe, die Mile auf den Tisch gestellt hatte, brannte trüb und gab dem einsamen Zimmer eine traurige, verlassene Stimmung.
Und doch nicht allein! Eine Flut von Gestalten drängte sich mit mächtigem Schwall herein, belebte den Raum, glitt hin und her und schaffte Wechsel und Bewegung. Wie Wellen auf hoher See, brausend, Schaumkämme hebend, sich teilend, sinkend, sich wieder hebend, höher, höher wogten Gedanken in dem Mädchenkopf. Stimmen flüsterten, Namen schwirrten. Hoch oben, weit draussen am graunächtlichen Himmel, glänzte ein Stern wie das Licht im Leuchtturm. Die Gestalten wiesen hin, die Stimmen flüsterten: „Dein Stern!“
Schaudernd, fröstelnd streckte Elisabeth die nackten Arme aus: „Mein Stern. Lass mich ihn erreichen, Gott! Ich muss ihn erreichen, ich werde ihn erreichen!“
2.
Lützowstrasse acht in der zweiten Etage des Vorderhauses wohnte die Familie Kistemacher; Mann, Frau und vier Kinder. Er war Zahnarzt.
Elisabeth war mit ihnen bekannt; die hübschen, lustigen Kinder waren ihr auf der Treppe, im Flur, auf dem Hof begegnet und hatten die Bekanntschaft mit den Eltern vermittelt.
Frau Kistemacher fühlte eine gewissermassen mütterliche Verpflichtung gegen das einsame Mädchen. „Sind Sie denn so ganz allein?“ hatte sie beim ersten Besuch gefragt.
„Ganz allein“, antwortete Elisabeth mit einem Lächeln, das alles Mitleid weit von sich wies. „Ich bin daran gewöhnt. Ich bin nach dem Tode meines Vaters geboren; meine Mutter starb, als ich noch sehr jung war, ich kam dann aufs Land zum Onkel. Er hat mich so erzogen, dass ich allein sein kann. Er war sehr gut; er hätte natürlich lieber einen Jungen gehabt.“
Sie hatte das ganz ohne Bitterkeit gesagt, es war so selbstverständlich; ein Junge hätte wohl das Gut geerbt, sie musste sich mit dem kleinen Kapital begnügen, von dessen Zinsen sie bescheiden genug lebte.
„Haben Sie denn kein Heimweh nach dem Lande?“ inquirierte Frau Kistemacher weiter.
„Nein.“
Heute hatte Elisabeth Heimweh. Sie sass in ihrer Stube am geöffneten Fenster und starrte mit müden Augen über die Dächer.
Weisse Tauben hockten auf einem First und putzten sich; der matte Glanz der Nachmittagbeleuchtung liess die blauen Schieferplättchen weniger düster erscheinen, aber noch immer waren sie dunkel. Des Mädchens Blick suchte sehnsüchtig den Himmel — mussten nicht die ersten Schwalben schwirren? Drehte sich nicht der goldene Hahn des Dorfkirchturms? Ach, nur Telephondrähte spannten lange, blitzende Fäden; die Dächer waren berusst, die weissen Tauben angegraut vom Rauch der Schlote, die Luft schlaff, dick vom emporwirbelnden Staub der Grossstadt.
Sie schloss die Augen, sie hatte den ganzen Tag gearbeitet. Nun war das Manuskript fertig, dort auf dem kleinen Tisch lag es. Leonore hatte ihr eingeschärft, es ja selbst zu Doktor Bolten zu tragen; doch der Mut fehlte ihr plötzlich. Ob’s auch gut war? Was würde er sagen?
Sie hatte mit Enthusiasmus gearbeitet, wochenlang. Mit einem Glücksgefühl sondergleichen hatte sie begonnen, gleich nach jenem Gesellschaftsabend bei Mannhardts. Die Feder hastete übers Papier, die Hoffnung trug ihre Gedanken auf mächtigen Flügeln. Es war etwas in ihr, das sie trieb, spornte, hetzte; sie galoppierte voran wie ein mutiges Ross ohne Zaum und Zügel. Es war ihre erste grössere Arbeit.
„Es hängt ungemein viel vom ersten Auftreten ab,“ hatte Frau Leonore gesagt, „nimm dich zusammen, Herzchen!“
Einem Nachtwandler, der ruhig im Vollmondschein über Dächer und Firste wandelt, war Elisabeth in diesen Wochen ähnlich gewesen. Nun war sie angerufen — sie erschrak, taumelte, ihr schwindelte. „Nimm dich zusammen!“ Wie macht man das, wenn da etwas herausdrängt, herausstürzt aus tiefster Seele, uneinschränkbar wie schäumendes Wildwasser aus der Felsenkluft?
Sie hob die Hände an die Schläfen, die glühten und schmerzten in der quälenden Gedankenflucht. Würde es ihm gefallen? Jetzt wusste sie’s, es würde ihm nicht gefallen. Was war sie denn, wer? Nichts.
Elisabeth senkte die Stirn tiefer und tiefer, bis sie auf dem Fensterbrett lag und ihre fiebernden Pulse an das kalte, fühllose Holz klopften. Ach, nur eine Seele haben, der sie ganz vertraute, die ihr ganz vertraute, die da sprach: Ich glaube an dich!
Die Tür ging auf, Mile steckte den Kopf herein: „Fräuleinchen, ’s is Zeit, wenn Sie zu dem Herrn gehn wollen; halb fünfe.“ Ihr dürrer Arm reckte sich wie eine Fahnenstange, Hut und Jäckchen baumelten daran.
„Ich gehe nicht.“
„I du meine Zeit, warum denn nich?“
„Es gefällt ihm doch nicht.“
„Gefällt ihm nich? Na so was! Allens, was Sie schreiben, is wunderschön; wenn ich nur eine Zeile lese, muss ich weinen. Wenn ich man bloss die Überschrift sehe. Das sollte ihm nicht gefallen?“ Sie rümpfte geringschätzig die Nase. „Dann versteht er nichts!“
„Ach, Mile,“ Elisabeth hob den Kopf und starrte geradeaus, „du verstehst es nicht!“
Wenn sie nur jemand ein paar Stellen vorlesen könnte!