Hol über, Cherub. Hans Leip
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Es dunkelte früh. Streiftrupps zogen durch die qualmigen zerstörten Straßen, das Gewehr bereit, wiesen ihn an, sich auf die Sammelplätze oder in einen Bunker zu verziehen. Einen Block weiter hallte ein Schuß. Meine Herren! Pambel hob die heisere Stimme: Menschlichkeit ist unser Ziel, auch das Ihre.
Wer plündert, wird erschossen! antwortete man ihm barsch, und ein Flintenkolben mahnte ihn zur Eile, seines Elends ungeachtet. Er bedachte, daß die Art des Zwischenhandels, wie er sie in blühenden Zeiten und wie alle Welt sie geübt, einem kaum getarnten Plündern nicht unähnlich gewesen sei.
Dennoch lebe ich noch! ermunterte er sich und gelangte auf die breiten Wiesenflächen, die der Menge sonst als festlicher Aufmarschplatz gedient; jetzt aber warteten dort Zehntausende Obdachloser auf den Abtransport ins ungefährdetere Landgebiet. Herr Pambel ließ sich in eine Lücke auf das zerdrückte Gras nieder. Seine Brandwunden und Prellungen quälten ihn heftig, aber er suchte es gelassen zu ertragen und sich das neue Leben vorzustellen, das Bili wohl zu führen sich anschickte. Würde er Teil daran haben dürfen? War er nicht all sein Leben lang einsam gewesen trotz allen Betriebes der Geschäfte, der Unterhaltungen und der Freundinnen? Ein neues Leben ... wie wollte Bili es nur anfangen? Bili, die er verscherzt hatte in seiner Abwehr gegen jede Veränderung des bequemen Daseins, das er geliebt. Nun hatte sie, ihrer Verlassenheit müde, sich eine Aufgabe zugelegt, eine andere als ihn, der es wohl hätte haben können, ihren Tränen nach, ihre eigentliche Aufgabe zu sein. Hatte er sich nicht tapfer gehalten, gegen das Feuer so gut wie gegen sie? Lösch das Dach, im Keller brennt’s!
Es fröstelte ihn trotz der Schwüle, die aus den glühenden Straßen quoll. Er hatte noch nie so viel nachgedacht, und es wurde ihm so gerührt als unbehaglich in seiner Grenzenlosigkeit. Freunde? dachte er: Freundinnen? Was hält mich noch? Wer weiß, wo sie geblieben sind, sie sind tot mit allem, was ich besessen habe, so oder anders. Und nun galt es, eine Auferstehung zu bedenken. Aber wo war es, das neue Leben, aufrichtiger, wesentlicher, inniger als bisher, weniger gierig, abgebrüht, neidisch und gedankenlos, als es dem Jahrhundert zum Verderben gereicht war rund um den mißbrauchten Erdball? Wo sollte er beginnen? So allein?
Aber unversehens, glühender als die feurige Sturmlawine schoß die Süße des Lebendigseins durch sein Gemüt, ohne viel Anlaß mitten im Anblick des Grauens. Er staunte die verbrannten Baumkronen an, die den Wiesenplan säumten, sah dahinter das Bild der zerschlagenen Stadt, sah die Scharen der um Hab und Gut Betrogenen, sah die rollende Kette der Fahrzeuge, die sich unaufhörlich mit der Fracht des Elends füllten, bestrahlt von der in rotem Dunste ungerührt sinkenden Sonne, und sah Bäume und Städte frisch ergrünen, sah Kinder springen und lachen, unvergänglich und immerdar.
Nur ich bin alt, sagte er sich, aber es war ohne Bitterkeit. Ihm war, als könne erst nun das rechte Genießen einsetzen der unendlichen Geschenke des Daseins, von denen er bislang nur die äußerlichsten bevorzugt hatte. Ihm wollte scheinen, daß er mit seiner neuen Ahnung von unerhörten, stillen, innigsten Lieblichkeiten selbst Armut und Hunger und Krankheit würde ertragen können, und selbst Spott und Verachtung, und er sehnte sich geradezu danach, von Herrn Blomengart noch einmal so verletzend abgefertigt zu werden, nur um zu beweisen, wie lächelnd und demütig gelassen er es nun hätte hinzunehmen vermocht.
Und daß er nun jemandem nachzutrauern habe, er, der noch niemandem nachgetrauert hatte, selbst seinen Eltern kaum, das erfüllte ihn mit seltsamer Begierde, so als lohne es sich schon dieser stillen zehrenden Trauer um Bili, das Leben liebzubehalten. Und der alte forsche Kavalier meldete sich noch einmal zu Wort in ihm, daß es doch schade sei, sie so entgangen zu sehen, jetzt, wo sozusagen er mit einem Heimatschuß davongekommen war und der andere und jeder andere tot. Er erhob sich fiebernd.
Aus einer Gruppe von Sanitätern, die betreuend umhergingen, sonderte sich einer und kam auf ihn zu: Mensch, Pambel, auch du? Es war einer seiner Bekannten von der Handelskammer, der freiwillig Dienst tat. Komm mit, sagte er herzlich, die Villa ist groß, kannst zwo Zimmer haben, besser du als irgendwer Wildfremdes, zusammenrücken müssen wir alle, und auch mein Kontor steht dir zur Verfügung, wir beackern den Balkan gemeinsam. Ich habe auch noch einen alten Anzug ...
Herr Pambel umarmte den Wackeren, so gut es ging. Ja, schluckte er, das ist echte Kameradschaft! Und er blickte über die Schulter des Freundes hin auf die Heimatlosen, die sich, von der Furcht der kommenden Nacht beschlichen, zu den Lastwagen drängten.
Ach, die Armen, dachte er, und auf einmal war es ihm, als gehöre er zu ihnen und dürfe sich nicht entziehen, da es nun von dannen ging in das Unbekannte, dürfe nicht leichtfertig sich zurückbegeben in ein bequemes Bett und die alten Gewohnheiten, in das alte Leben, in die alte Betriebsamkeit, als sei nichts vorgefallen als ein bißchen Verlust und Verdruß.
Wortlos löste er sich von dem Halt, den er eben gefunden, und er ging davon, schweigend in den breiten trüben Strom der Entwurzelten, und der Handelsfreund sah ihm kopfschüttelnd nach, wie er mühselig dahinhumpelte, wie er einem alten Manne sogar noch das Bündel tragen half trotz der behinderten Hände und in immer größerem Gedränge den Lastwagen zu entschwand.
Ein sonderbares, nie geahntes Glücksgefühl kam nun über Herrn Pambel, vergleichbar höchstens dem, das er empfunden, als er zum ersten Male die Weite des Meeres vom Segelboot aus vor sich gesehen; nun aber war es unendlicher, unsagbarer, unbegrenzter. Ihr, meine Brüder alle, hätte er sagen mögen, in Not und Elend und in der Heimatlosigkeit, meine Brüder und Schwestern alle! Ich will wie ihr dorthin und dorthin verschlagen sein und nicht klagen und will fröhlich sein, daß ich lebe wie ihr.
Als sei er der betört singende Vogel, der dem Käfig entflohen war, so war ihm zumute. Und er half bei den Lastwagen denen, die schwächer waren als er und es eiliger hatten und – er sagte es sich voll Mitleid – ängstlicher waren. Ihm war, als könne nie wieder je eine Furcht ihn befallen, und er überlegte, es wäre geratener, in der Stadt zu bleiben, wo zu erwartende neue Angriffe Mut und Hilfe erfordern würden.
Mitten im Gewühle aber, hin- und hergestoßen, begann er wieder nachzudenken, und er kam zu sich selbst zurück und setzte die Unterhaltung mit Bili fort, zweifelnd nun und begierig, ob er sie wohl recht begriffen habe. Wie denn verträgt sich dein Erlauschen der Geschichte aus der innersten Stille, wie du es genannt hast und wie es ähnlich in den Versen heißt, Bili, wie verträgt es sich mit deinem gefallenen Mann und deinen gefallenen Söhnen oder vielmehr – verzeih, wenn ich tollpatschig rede, es sind neue Bezirke für mich – wie vertrug es sich vorher?
Er blickte sich um, als habe ihn jemand gehört und wolle ihn verhaften. Schon wieder feige? lächelte er, und er reckte sich und sagte laut: Friede mit Euch! Aber niemand achtete darauf.
Und als er nun die Kette der Lastwagen, die als letzte die Stadt verlassen sollten, hinunterspähte, ob nicht irgendwo bei dem armen Gepäck mit anzufassen sei, seinen Kräften gemäß, da sah er über den lärmend sich hoch stauenden Ansturm, fern von sich, doch überdeutlich, am Ende der Wiese – und das Herz stockte ihm – jemanden im Strudel der anderen über das Gitter des letzten Wagens klimmen und, von hilfreichen Händen unterstützt, ein Kind hinterherziehen und noch eins und noch eins. Er stolperte darauf zu, hinkte, rannte über die zertretene Wiese, drängte, wühlte, stieß sich durch die quirlende Menge, erreichte den Wagen, eben, eben noch, krallte sich an, wie in das Gitter des Kanarienkäfigs, schrie auf vor Schmerzen und entschuldigte sich, wurde mitgeschleift, wurde von mitleidigen Fäusten ins Überfüllte hinaufgezogen.
Es wurde gänzlich Nacht, bis sie miteinander sprechen konnten, als nämlich einige fremdländische Arbeiter, die in einem Wäldchen nahe der Stadt dem nächsten Nachtangriff zu entgehen gedachten, ausgestiegen waren. Bili saß in einer Ecke, noch in ihrem Abendkleid