Toxische Männlichkeit. Sebastian Tippe

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Toxische Männlichkeit - Sebastian Tippe

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und Frauen arbeiteten, wie es Mundlos (vgl. 2013, S. 21) beschreibt, als sogenannte Produktionseinheit bei der Bewirtung des Hofes und des Landes zusammen. Dies änderte sich im Zuge der Industrialisierung und des Hochkapitalismus. Es entstand das aktuelle, das traditionelle Männerbild. In diesem Zuge verschob sich auch die Familienzusammenstellung von der Groß- zur Kleinfamilie. Die entstandene Trennung von Lohnerwerbstätigkeit und Haushaltstätigkeiten sowie Care-Arbeit nahm damit eine entscheidende Wende, die bis heute unsere Gesellschaft bestimmt, Frauen damit in finanzielle und rechtlich abhängige Positionen drängt und Männer emporhebt – und gleichzeitig toxische Männlichkeit nährt, produziert und reproduziert.

      Armbruster (2010, S. 18) fasst unsere patriarchale Gesellschaft wie folgt zusammen: „Tatsache ist, dass die Erde in der heutigen Zeit, bis auf ein paar Alibifrauen, von Männern geführt wird. Diese geschlechtsspezifische Einseitigkeit, in Form einer patriarchal-männlichen Dominanz, führt zu einer Schieflage unserer Gesellschaft. Und diese patriarchal-männliche Dominanz finden wir ja in der heutigen Gesellschaft wirklich überall. Überall auf der Welt sind Patriarchen in Führungspositionen: In den Theologien, in der Wirtschaft, in der Politik, in der Kriegsführung. Das Kapital liegt fast ausschließlich in den Händen von patriarchalen Männern, patriarchalen Männern gehört das Land. Und das Ergebnis von dieser patriarchal-männlichen Dominanz ist, dass das menschliche Leben, und das vieler anderer Spezies auf der Erde massiv bedroht ist. Probleme, wie ein von Menschen verursachter Klimawandel mit all seinen Auswirkungen, eine Versorgung mit sauberem Wasser, weltweit ein zu hohes Bevölkerungswachstum, viele Kriege militärischer und wirtschaftlicher Art, unser Finanzdesaster, das durch übermäßige Gier und damit verbundene Spekulationen ausgelöst wurde: All das sind Probleme, die uns hinlänglich bekannt sind und, wenn wir weiter hingucken, wissen wir auch, dass diese Probleme eben durch diese, heute weltweit herrschende, patriarchal männliche Dominanz bedingt sind.“ Guido Zurstiege (vgl. 2001, S. 201) schreibt: „In einer patriarchalen Gesellschaft ist es eben normal, Mann zu sein“.

      Um nun Männlichkeit und männliche Sozialisation zu definieren, zu verorten und greifbar zu machen, ist zunächst bedeutsam, dass es nicht die eine Männlichkeit gibt. Männlichkeit beschreibt ein Kontinuum von möglichen sozialisationsbedingten Denk-, Verhaltens- und Präsentations-/Performancemustern. Bestimmte Muster sind jedoch übergeordnet feststellbar – beispielsweise ein überdurchschnittliches Konkurrenzdenken, der Wettkampf unter Männern oder die Abwertung von Frauen. Männlichkeit entsteht im Sozialisationsprozess durch unterschiedliche Aspekte. Einer dieser Aspekte besteht in der Abgrenzung: Männlich zu sein bedeutet auf der einen Seite nicht schwach und auf der anderen Seite stark zu sein (vgl. Heimvolkshochschule: Alte Molkerei Frille 1988, S. 65 ff.). Da Weiblichkeit gesellschaftlich als schwach bewertet wird (wir kennen die Formulierung des angeblich starken und schwachen Geschlechts) bedeutet dies für die Jungen, nicht weiblich sein zu dürfen oder so zu wirken. Der französische Soziologe und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu (vgl. 1997, S. 215) konstatiert, dass Männlichkeit immer in Abgrenzung gegenüber Frauen und anderen Männern verstanden werden muss, wobei Männer diejenigen sind, die gegenüber Frauen dominieren wollen. Schnerring und Verlan (2014, S. 119) schreiben dazu: „‚Warmduscher‘, ‚Weichei‘, ‚Schwächling‘, ‚Muttersöhnchen‘ – Jungen lernen früh, dass es wichtig ist, sich von dem, was als weiblich gilt, zu distanzieren.“

      Jungen spalten sehr früh grundlegende und wichtige Eigenschaften ab, die heute als vermeintlich weiblich gelten: Fürsorge, Selbstfürsorge, liebevoller Umgang, Empathie sowie ein gesunder Zugang zu den eigenen Gefühlen und der Umgang damit (vgl. Tippe 2019d). Jungen nutzen Bewältigungsstrategien wie Aggressionen und richten sie gegen andere, indem beispielsweise Hilflosigkeit abgespalten und auf andere übertragen wird (Externalisierungsprozesse) – die anderen werden zum Sündenbock gemacht (vgl. Schnerring/Verlan 2014, S. 121, bezugnehmend auf Böhnisch). Jungen verlernen (oder lernen erst gar nicht), „sich zu öffnen und mitzuteilen“ (ebd.). Aus den Erwartungen an die männliche Geschlechterrolle können fehlende Empathiefähigkeit und fehlender Kontakt zu anderen resultieren, sowie Bewältigungsstrategien wie Action, Handeln, Kontrolle und Gewalt als Lösungsstrategie anstelle von emotionalem und kommunikativem Austausch (vgl. ebd.)

      Dieter Baacke (1993, S. 845) schreibt: „[…] und gleichzeitig entsteht eine Furcht des Mannes vor der Verbindung der Frau als einer Fremden, die durch Empfängnis und Gebären unmittelbaren Bezug zur Natur hat. Damit bleiben der Frau die Ursprünge menschlicher Emotionen zugänglich, während der Mann früh lernt, diese zu unterdrücken und die Beschäftigung mit sich selbst und dem eigenen Körper zu vermeiden durch Externalisierung. Der Gebärneid des Mannes gegenüber der Frau wird kompensiert durch Intelligenzleistungen, Rationalität, Veräußerung der spontanen Antriebe in die Organisation gesellschaftlicher Zustände in Form von Machtausübung und Gewalt.“ Böhnisch und Winter (Baacke 1993) konstatieren, dass der Ausdruck von Gefühlen als weiblich eingeordnet wird, was insofern problematisch ist, da Jungen Gefühle unterdrücken und somit nur einen mangelnden Selbstbezug erworben. Es wird daraus resultierend kein gesunder Umgang mit Ablehnung, Frustration oder Misserfolg erlernt. Weitere Komponenten der männlichen Sozialisation bestehen darin, dass Jungen kein Opfer sein dürfen und auch nicht „anders“ sein sollen – zum Beispiel transsexuell oder queer –, dass Jungen nicht hilflos wirken und nicht behindert/beeinträchtigt sein sollen sowie nicht homosexuell sein oder so wirken dürfen (vgl. Mannigfaltig e. V. 2007, S. 49).

      In der pädagogischen Jungenarbeit wird bezüglich männlicher Sozialisation meist auf den Teilaspekt der Abgrenzung zu Weiblichkeit verwiesen. Es wird dabei völlig ausgeblendet, dass es für Jungen und Männer sehr lukrativ ist, in einer patriarchalen Gesellschaft männlich zu sein und männlichen Geschlechterstereotypen zu entsprechen, da sie allein durch das Vorhandensein eines Penis und ihrer männlichen Präsentation Privilegien erhalten, die Frauen verwehrt bleiben.

      Jungen lernen, dass sie über Mädchen und Frauen stehen, aber auch über homosexuellen, transsexuellen, transgender, queeren, nonbinary oder intersexuellen Menschen sowie Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, vermeintlich Schwachen wie wohnungslosen oder körperlich unterlegenden Menschen etc. und allen, die nicht dem „männlichen Ideal“ entsprechen. Dazu gehören auch die soziale oder regionale Herkunft, das Alter oder das Gewicht. Sie eignen sich an, dass ein „richtiger Mann“ vor allem stark und hart ist, sich nimmt, was er will und immer weitermacht, selbst dann, wenn er eigentlich nicht mehr kann, dass es nicht so wichtig ist, sich um sich selber und die eigenen Bedürfnisse und Gefühle oder die anderer kümmern. Sie wollen unfehlbar, unbesiegbar, aber niemals hilflos oder überfordert, immer der Beste sowie permanent erfolgreich sein und das Sagen haben. Ihnen sollen die Frauen zu Füßen liegen, und sie wollen besonders und überragend sein, die Kontrolle haben und (sexuell) leistungsfähig sowie zeugungsfähig sein.

      Selbst gesetzte Ziele sollen durch einen festen Willen auch unter ungünstigen Bedingungen erreicht werden – dahinter steht die problematische Annahme, dass jeder Mann ein „echter Kerl“ werden kann oder es selber verschuldet hat, wenn er dieses Ziel nicht erreicht (vgl. Meuser 2001, S. 229).

      Der Autor Jens van Tricht (2019, S. 19 f.) stellt geschlechterspezifische, sozial konstruierte Stereotype einander gegenüber:

Männlich Weiblich
hart weich
rational emotional
stark schwach
kompetitiv verbindend
überzeugen verstehen
arbeiten versorgen
penetrieren

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