Ämter wahrnehmen könnte, es aber nicht tut. Ihr Gegenstück war der polites − eine Figur, auf die bis heute Überlegungen zur Stellung des Bürgers in einer demokratischen Gesellschaft zurückgreifen. Die idiotische Sphäre war die des oikos, also der Wirtschaft im Sinne der Reproduktion und Überlebenssicherung. Als gäbe es eine begriffsgeschichtliche Kontinuität vom Idioten der griechischen Polis zum besorgten Bürger, begründen auch letztere ihren aufgewühlten Gemütszustand mit der Sorge ums alltägliche Überleben und verweisen auf die Cent-Stücke (D-Mark), die vom vielen Umdrehen bereits abgegriffen sind. Im Zustand ihrer seelischen Aufwallung bemerken sie jedoch nicht, dass sie sich das Politische zueigen machen und es gleichzeitig ablehnen − und so zu dialektisch oszilierenden Subjekten werden.
Dass der Bürger von seiner Begriffsherkunft den Verteidiger eines befestigten Zufluchtsorts bezeichnet, dürfte mehr zum besorgten Selbstverständnis passen, da man sich im Belagerungszustand wähnt (Invasionsarmee). Hinderlich dagegen: Bereits im 12. Jahrhundert vollzog sich eine semantische Verschiebung hin zum Burgbewohner statt des Verteidigers. Darin spiegelt sich das Hauptdilemma der besorgten Rhetorik: Bürgerschaft setzt, im Gegensatz zur Herrschaft, ein Verständnis der Horizontalität voraus. Sie ist eine Assoziation der Freien und Gleichen, in welcher sich aus Herkunft, Gewohnheit und Tradition keine Vorteile ableiten lassen, ebenso wenig wie die Ungleichbehandlung jener, die aus vertrauten Mustern herausfallen. In ihrem Avantgarde-Anspruch (»Wacht endlich auf!«, Aufwachen), der allen Kritikern die politische Unmündigkeit und Korrumpiertheit attestiert, schlägt sich dagegen vielmehr ein patriarchales Herrschaftsdenken nieder. [rs]
Bürgerwehr
Es »wird zeit das endlich die demos in bürgerwehr aufgeht«, fordert ein Kommentator, »und unser ja unser land das deutschland aufräumen und die regierung stürtzen und dan raus mit den migranten alle es ist unser land was sytehmatich von ausen her zerlegt wird wollt ihr das?? jetzt heist es aufstehn unschuldige sterben weil regierung versagt«. Mit dem Aufruf, eine Bürgerwehr müsse richten, wo Demonstrationen in seinen Augen versagten, ist der Schreiber nicht allein.
»Bürger, wehrt Euch!« lautet eine der Besorgtenparolen. Bürgerwehr klingt harmlos, nach Mieterschutzbund und Fußgängerverein. Mensch Bürger nutzt sein gutes Recht, lässt sich nicht alles gefallen. So unproblematisch und gewaltneutral ist die Bürgerwehridee nicht, das zeigt schon ihr idealisierter Urmythos. Noch immer gilt vielen die Alte Schweizer Eidgenossenschaft als Vorbild eines mit Spießen bewaffneten Bürgerbundes, der erfolgreich das Ritterheer der habgierigen Habsburger schlug. Das waren damals natürlich nicht alles Menschen, die sich freiwillig zusammenschlossen, sondern es gab widersprüchliche Eigeninteressen, Abhängigkeiten und Standesunterschiede. Tatsächlich kam im Mittelalter für freie Stadtbürger eine Verteidigungspflicht auf. Sie hatten sich an der Waffe fit zu halten und im Angriffsfall ihre Stadt zu schützen. Daraus entwickelten sich im 19. Jahrhundert militärische Einrichtungen, die Arbeiteraufstände oder die Erhebungen der Märzrevolution 1848 bekämpften. Dem Willen des »gemeinen Menschen« dienten sie gerade nicht. Nach dem Ersten Weltkrieg verschwanden sie. Besonders in Süddeutschland erinnern bis heute Vereine aus Traditionspflege an diese Bürgerwehren.
Faustrecht statt Folklore bestimmt das Denken gegenwärtiger Bürgerwehren. Mögen manche wirklich der Nachbarschaftshilfe verpflichtet sein, so sind die meisten doch vom Ungeist der Besorgten bewegt. Diese Form der Selbstjustiz − der juristische Rahmen für eine legale Bürgerwehraktivität ist sehr eng − ist nicht nur problematisch, weil sie de facto das Gewaltmonopol des Staats infrage stellt. Unausgebildete Menschen maßen sich im Namen des Schutzes der Öffentlichkeit Personenkontrollen, Festsetzungen, gar den Einsatz körperlicher Gewalt an. Das den Reichsbürgern zugehörige »Deutsche Polizeihilfswerk« läuft in Ostdeutschland als Vollstrecker eines Fantasiestaats auf und setzte schon mal Gerichtsvollzieher mit Kabelbindern fest. Wegen des Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung, versuchten Mord und versuchte schwere Körperverletzung hat Ende 2017 die Bundesstaatsanwaltschaft Anklage gegen Anhänger der Bürgerwehr Freital (Erzgebirge) erhoben (Urteile wurden bis Drucklegung nicht verhängt). [tp]
Die Rolle der »christlich-jüdischen Tradition« bei der kolportierten Notwendigkeit, das Abendland gegen die Islamisierung zu verteidigen, erscheint wie ein Phantomschmerz. Denn das sächsische Geburtsland von Pegida ist wie andere ostdeutsche Bundesländer für die Konfessionslosigkeit seiner Einwohner bekannt. Manche würden auch behaupten, dass es Antisemiten dort leichter haben als Juden. Vielleicht deshalb strengt sich die Evangelische Kirche in Sachsen nun an, dem Phantom eine pegida-gerechte Gestalt zu geben. So profilierte sich der Landesbischof Carsten Rentzing vor seiner Ernennung mit homophoben Aussagen. Und für den ob seiner DDR-Opposition bekannten ehemaligen Pfarrer Theo Lehmann drückt sich in dieser Haltung der auch in Kirchensachen bewundernswerte »sächsische Weg« aus. Diesen ebnet er für die Spaziergänge von Pegida, an denen er teilnimmt, um seine Kritik am Islam als »antichristliche Religion« zu demonstrieren.
Tatsächlich meint die christlich-jüdische Tradition gerade nicht die christlichen Kirchen. Erfunden haben ihn Vertreter meist aus dem Lager der Unionsparteien zu Hochzeiten der Leitkultur- und Integrationsdebatten (die dabei den schon zuvor umstrittenen Begriff einer jüdisch-christlichen Tradition noch verkehrten, um ihre Prioritäten zu verdeutlichen). Meist in Verbindung mit Aufklärung gebraucht, dient das Konstrukt einer vermeintlich aufgeklärten Variante des antimuslimischen Rassismus. Und die geht so: »Unser« Rechtsstaat und seine freiheitlichen Grundwerte in »unserem« Grundgesetz wie die Gleichstellung der Geschlechter, Freiheit der Kunst, Meinungsoder Religionsfreiheit seien das Ergebnis besagter Tradition (übrigens auch die sexuelle Freiheit). Denn im Gegensatz zum Islam mit seinen »kriegerisch-arabischen Ursprüngen« hätte diese erst die Aufklärung ermöglicht. Einige Tatsachen wurden allerdings unter den Stammtisch fallen gelassen: zum Beispiel, dass Christentum und Judentum die längste Zeit vor allem durch Glaubenskriege und Antisemitismus »verbunden« waren und − ach ja − die Shoah als dialektische »Kleinigkeit« der westlichen »Zivilisation« auch etwas mit diesem Verhältnis zu tun hat. Schließlich verdrehen die Apologeten des christlich-jüdischen Abendlands den einfachen Umstand, dass die von ihnen gefeierten Freiheiten gegen die Kirchen erkämpft wurden.