Wirklichkeiten. Kurd Lasswitz

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Wirklichkeiten - Kurd Lasswitz

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anderen; man gelangt stets auf einen unendlichen Prozeß, der zuletzt ins Unbestimmte verschwimmt. Alles was ist, ist dann zwar bestimmt durch ein anderes, aber daß überhaupt etwas ist, bleibt vom Standpunkte der Naturerfahrung aus ein Zufall.

      Daß überhaupt etwas ist, wissen wir nicht aus der Erkenntnis, sondern aus dem Selbstgefühl, daß wir selbst sind. Und nur von hier aus können wir den unverrückbaren Standpunkt gewinnen, von dem aus das Ganze der Natur jetzt als das Mittel erscheint zu dem Zwecke, daß überhaupt etwas sein soll, nämlich Verwirklichung des Guten durch die Freiheit sittlicher Persönlichkeiten. Nur von dem Weltzweck aus, der in der Forderung des Sittengesetzes gegeben ist, könnte man fragen, ob die Weltseele nötig sei zu vermitteln zwischen der Idee des Guten und der Natur, wie einst Platon es glaubte. Und dann könnte man doch das Wort »Weltseele« nur verstehen als Symbol eines Vernunftgesetzes, als eine Versinnbildlichung unseres Glaubens an den Willen Gottes, in welchem Gesetz und Freiheit zusammenfallen.

      Ins Inn're der Natur

      Daß »Natur« ein vieldeutiges Wort ist, weiß jedermann; trotzdem läßt sich eine mächtige, in der Gegenwart lebendige Bewegung im Grunde auf eine mangelhafte Unterscheidung der Bedeutungen dieses Wortes zurückführen. Schon vor mehr als zweihundert Jahren hat der berühmte Chemiker Robert Boyle in einer kleinen Schrift »Über die Natur selbst« sich über die Fehlschlüsse beklagt, die aus dem Mißbrauch des Wortes »Natur« hervorgehen. Er könnte es, wenn er heute lebte, in noch viel ausgedehnterem Maße tun, nachdem der von ihm vertretene Begriff des Naturmechanismus eine vertiefte, durch die wissenschaftliche Forschung gerechtfertigte Bedeutung gewonnen hat. Denn neben der exakten Bestimmung, wonach Natur den Inbegriff dessen umfaßt, was der Notwendigkeit erkennbarer Gesetze unterliegt und somit den Gegenstand der Naturwissenschaft ausmacht, verstehen wir andrerseits unter Natur auch immer noch jenes unbestimmte Etwas, das uns wie ein ursprünglich Gegebenes entgegentritt, wenn wir gegenüber den Verfeinerungen der Kultur auf unser innerstes Wesen zurückzugehen versuchen. In diesem Sinne ist »Natur« das Losungswort für alle Bestrebungen, die irgend eine wirkliche oder scheinbare Stockung im Kulturleben durch eine Besinnung auf die unmittelbare Erfahrung des Menschen zu beseitigen wünschen. Natur ist also dann – im Geiste Rousseaus – der direkte Gegensatz zur Kultur, die als eine Entartung des Natürlichen erscheint; und damit kehrt sich der Sinn des Wortes genau in das Gegenteil dessen, was die Wissenschaft mit Natur bezeichnet. Im wissenschaftlichen Sinne bedeutet die Natur nämlich jenes Gebiet der Naturgesetzlichkeit, das nur im Fortschritt der Erkenntnis von uns erobert wurde und demnach selbst ein Erzeugnis der Kultur ist.

      Hieraus entsteht nun eine gefährliche Verwirrung, wenn nicht philosophische Besinnung darauf hinweist, daß Natur im Leben und Natur in der Wissenschaft zwei verschiedene Dinge anzeigen; das eine Mal den unergründlichen Mutterschoß des Daseins, aus dem immer neue Kräfte verjüngend und schöpferisch emporsteigen; das andere Mal die feste Fügung der Notwendigkeit im Raum und Zeit, in der ein ewiges Gesetz alles Werdende in unverrückbare Bahnen zwingt.

      Wer im gewöhnlichen Sinne von Natur als dem ursprünglichen Quell aller Gestaltung spricht, der will eben damit ein Gebiet hervorheben, das er sich unabhängig denkt von jeder menschlichen Satzung, unabhängig von der Willkür der Individuen, von den Regeln der Konvention, von den Gesetzen des menschlichen Denkens, kurzum von allem, was als Resultat einer kulturhistorischen Entwickelung zu betrachten ist. Was er sich unter Natur vorstellt, ist ein unbestimmtes Weben und Walten des Alls. Daß es hierin ein gesetzliches Geschehen gibt, wird wohl stillschweigend vorausgesetzt, aber in welcher Beziehung dieses zum Bewußtsein der Menschheit steht, wird nicht näher erwogen. Natur soll gerade das bedeuten, was allem menschlichen Schaffen und Denken übergeordnet ist, die Weltgestaltung selbst. Nicht bloß die Sonnen- und Weltsysteme, die sich im unendlichen Raume ballen, nicht bloß auf Erden der Kreislauf der Gewässer, das Rauschen des Windes, das Zerbröckeln der Gesteine, nicht bloß das Wachsen der Zellen, die Entwickelung der Organismen, die Wechselwirkung alles Lebendigen, nicht bloß diese unabsehbaren Prozesse des Werdens und Vergehens werden als Natur bezeichnet, sondern auch der innerste Grund des Menschendaseins selbst. Das unbewußte Spiel der Triebe und Regungen in der Menschenseele, das Auf- und Niederwogen der Gefühle, das Aufbrausen der Leidenschaften, ebenso der Wechsel der Vorstellungen, der unwillkürliche Verlauf der Gedanken, die Macht der Einbildungskraft und die Schöpfertat des Genius heißen natürlich, werden betrachtet als der Ausdruck der im Inneren der Dinge waltenden Urkraft, der Natur. Mit diesem Namen wird alles zusammengefaßt, was im Wechsel der Zeit zur Fülle des Lebens sich gestaltet, was Himmel und Erde umspannt und als Leid und Lust im Menschenherzen flutet, ja endlich auch der Urgrund des Lebenswillens selbst, der in den sozialen Beziehungen der einzelnen und der Völker sich verwirklicht. So gilt Natur als das Weltgeschehen selbst, als eine ursprüngliche, ja als die einzige, allumfassende Realität, wenigstens als eine Macht, die in allen Gestaltungen der Wirklichkeit das im letzten Grunde Bestimmende darstellt. Und als solche übergeordnete Gewalt soll sie die rettende Zuflucht bilden, wohin die Menschheit sich drängt, wenn die Widersprüche des zivilisierten Lebens sich zuspitzen und häufen, um aus dem ewigen Jungbrunnen der Natur Erquickung und neue Säfte zu gewinnen.

      Nun aber kommt die Wissenschaft von der Natur und erklärt sie als ein großes Uhrwerk, das unter dem eisernen Gesetze der Notwendigkeit sein gefühlloses Räderspiel abrollt. Und die Wissenschaft ist die mächtige geistige Führerin des Jahrhunderts, das ihr seinen eigenartigen Charakter verdankt. Die Naturwissenschaft schreitet einher als Siegerin im Kampfe der Geister. Ihr Fuß ruht auf dem unerschütterlichen Grunde mathematischer Gesetze, mit dem Szepter der Rechnung lenkt sie die Bewegungen der Körper bis in die fernsten Räume und Zeiten. Ihre unerschöpflichen Hilfsmittel entnimmt sie dem breiten, fruchtbaren Boden der Erfahrung, und ihr Haupt schmückt die Strahlenkrone des Erfolges, in welche die alles überwindende Technik immer herrlichere Edelsteine einfügt. Kein Wunder, daß ihren Worten gläubig gelauscht wird. Und diese Worte sagen: »Was ich euch gebe als das Resultat der Forschung, als das Eigentum, worüber ihr als Herren schaltet, das kann ich euch nur geben, weil es der Erkenntnis unterworfen ist; und es ist der Erkenntnis unterworfen, weil es Gesetzen gehorcht, die den Umlauf der Sonnen ebenso unveränderlich bestimmen wie den Zerfall der Molekeln in eurem Nervensystem, wenn eine Empfindung euch durchzuckt. Es ist der Zwang des Gedankens, der die Natur unter dem Gesetz der Wechselwirkung zu einem Mechanismus macht, und zu diesem Mechanismus gehört euer eigen Leib und Leben, sofern ihr diese erkennen wollt.«

      Dies sagt die Naturwissenschaft, und sie sagt es mit Recht; aber sie sagt auch nicht mehr. Die Natur ist ein Mechanismus, zu welchem der Mensch ebenfalls gehört, sofern er sich als Gegenstand der Forschung betrachtet. Dabei soll das Wort Mechanismus immer den allgemeinen Sinn haben: ein System; d.h. eine gesetzliche Verbindung von Elementen zu einer Einheit, deren Realität sich nicht etwa auf die einzelnen Elemente allein, sondern gerade auf die Art ihres Zusammenschlusses zu einer besonderen Wirkungsweise gründet. In diesem Sinne ist eine Maschine so gut ein System wie ein Organismus. Ihr Bestehen beruht auf der Wechselwirkung von Teil und Ganzem, nur darf diese nicht gedacht werden als eine Bestimmung aus bewußtem Willen, sondern als eine Beziehung durch gesetzliche Notwendigkeit (vergl. Abschn. XIV). Jedoch nun entsteht die Verwirrung durch den Doppelsinn des Wortes »Natur«. Natürlich gilt für gewöhnlich als die umfassende Realität, als die Weltgestaltung selbst. So wäre denn diese Weltgestaltung ein Mechanismus, in welchem jede kleinste Veränderung von Ewigkeit her gesetzlich bestimmt ist, und in diesen Mechanismus gehörte das ganze Menschenleben mit seinen Freuden und Schmerzen, mit der Kraft des ethischen Charakters und der Gewalt des ästhetischen Genies, mit der sittlichen Forderung der Willensfreiheit und allen Gütern des Ideals? Das kann nicht sein!

      Es gibt eine Realität in den Tiefen des Menschenlebens, die keiner Naturwissenschaft zugänglich ist, und an welcher der Glaube an die Freiheit der Bestimmung nicht rütteln läßt. Und keiner ernsten Wissenschaft fällt es ein, diese Freiheit stürzen zu wollen. Es ist lediglich ein Mißverständnis über die Bedeutung des Wortes Natur, wenn man der Naturwissenschaft einen derartigen Übergriff unterlegt. Die Natur, deren Erkenntnis von der Wissenschaft erreicht wird, ist eben nicht jenes allumfassende

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