Blaue Iris - Roland Benito-Krimi 11. Inger Gammelgaard Madsen

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Blaue Iris - Roland Benito-Krimi 11 - Inger Gammelgaard Madsen

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nicht gefallen. Sie war nervös geworden und hatte den Papierkorb verfehlt. Als der zusammengeknüllte Zettel weit weg vom Mülleimer landete, hatte sie das schreckliche Gefühl beschlichen, dass das folgenschwer werden würde.

      Mira kehrte abrupt in die Gegenwart zurück, als Ulla eine tröstende Hand auf ihren Arm legte und sie spürte, dass ihre Tränen liefen. Irritiert wischte sie die Wangen mit dem Handschuh trocken und schielte nach unten zu Ulla, die ihr nur bis zur Schulter reichte. An ihrer Stelle wäre sie nicht hergekommen und hätte geweint. Ulla gehörte nicht zur Gang. Vielleicht sah sie das jetzt als eine Möglichkeit. Aber Iris war nicht die Einzige, die sie nicht in der Clique haben wollte. Ulla war einfach unbeliebt. Sie war fett, schielte, stotterte, trug unvorteilhafte Klamotten, hatte eine unmoderne Brille und kein iPhone. Gerüchten zufolge hatte ihre Familie Weihnachtshilfe bekommen. Mira wusste nicht, ob das stimmte. Ihr Vater hatte geschnaubt, als sie im Fernsehen darüber berichtet hatten, dass immer mehr Leute Hilfe brauchten, um Weihnachten zu bewältigen. Er nannte sie Schmarotzerärsche und Parasiten und betonte verärgert, dass sie auf Kosten seiner hart verdienten Steuergelder Weihnachten feierten und einfach keinen Bock hätten, selbst genug Geld zu verdienen, weil es genauso in Dänemark sei – dass alle hinten und vorne Hilfe bekämen. Er selbst bekam keine bei der Möbelfabrik und es sei so gut wie unmöglich, Arbeitskräfte zu finden, behauptete er.

      Mira befreite sich von Ullas Hand, ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Die Kälte drang von dem vereisten Asphalt durch die Sohlen und machte die Füße gefühllos. Waren sie nicht bald bei dieser Kirche?

      Die Leute in der Stadt hatten nach Iris gesucht in dichten, langen Reihen, die langsam durch die Felder und Wälder der Umgebung gingen. Sie hatten ihren Namen gerufen. Polizeihunde wurden eingesetzt. Taucher hatten in Mooren und Seen gesucht. Schnake, die Sportlehrerin an der Askholt, hatte den Fackelzug und den Gedenkgottesdienst in der Kirche gemeinsam mit Iris’ Eltern organisiert. Iris sei ihre beste Schülerin gewesen, hatte sie einer Journalistin vom Lokalfernsehen gegenüber geäußert, als sie in den Nachrichten von der Veranstaltung berichteten. Nun, da Iris nicht mehr da war, musste es ja sie, Mira, sein, die diesen Platz einnahm. Natürlich nicht beim Tauchen, aber in allen anderen Sportdisziplinen.

      „Das G…G…Ganze wird a…a…aufgenommen fürs F…F…Fernsehen“, stotterte Ulla bewegt, den Blick auf ihre Füße mit den abgenutzten, hässlichen Stiefeln gerichtet, die versuchten, auf dem spiegelglatten Weg Halt zu finden.

      Mira hatte die Journalistin von TV2 Ostjütland schon gesehen, die auch Schnake interviewt hatte. Sie gesellte sich zwischendurch zu der Gruppe und sprach mit denen, die sich äußern wollten, während der Bodybuilder-Typ filmte und Kaugummi kaute.

      Mira zog sich aus der Gruppe zurück, als die Journalistin in ihre Richtung steuerte. Sie wollte nicht ins Fernsehen und schon gar nicht mit Ulla. Was würden die anderen aus der Gang denken, wenn sie das sähen? Waren sie auch hier? Sie hatte keinen Einzigen von ihnen gesehen.

      Die Journalistin sprach mit Ulla, die weinend und stotternd losplapperte. Was konnte die schon erzählen? Was wusste sie überhaupt über Iris? Die Eifersucht kribbelte wieder unter der Haut.

      Mira war zwischen dem Ehepaar gelandet, dem die Bäckerei gehörte. Sie wusste nicht mal, wie sie hießen. Die Bäckerin hatte rote Augen unter der Pelzmütze und knüllte ein Taschentuch in einem schwarzen Skihandschuh. In dem anderen Arm hing ihr Mann, der ein ganzes Stück älter war. Es fiel ihm schwer, fest auf dem Eis zu stehen, und er traf die ganze Zeit beinahe andere mit seiner Fackel.

      „Das ist so tragisch“, schluchzte die Bäckerin. „Warst du nicht mit Iris unterwegs, als sie verschwand?“

      Mira nickte. „Wir hatten ein Taxi genommen, aber Iris ist ja ausgestiegen, und …“

      „Wieso hast du das zugelassen? Warum hast du sie nicht bis nach Hause begleitet? Wie konntest du sie allein gehen lassen?“

      Mira zog sich ein weiteres Mal zurück und versengte beinahe die Pelzmütze der Bäckerin mit der Fackel. Nicht mit Absicht. Zum Glück kannte sie die, mit denen sie jetzt zusammenlief, nicht. Sie atmete schwer aus und hielt einen Moment lang die Luft an, um den Puls herunterzufahren und das Herz zu beruhigen.

      Mira blieb an der Tür zu der komplett gefüllten Kirche stehen. Es gab keinen Sarg – natürlich. Es war ja keine richtige Beerdigung, aber es gab einen kleinen Tisch, auf dem ein Foto von Iris stand. Blumen lagen daneben. Blaue Iris. Wer hatte sie dorthin gelegt? Iris hasste diese Blume. Mira spürte einen Kloß im Hals, dann entdeckte sie die anderen. Josefine und Frederikke saßen zusammen auf einer Bank hinten in der Kirche und Oliver und Marius hatten keinen Sitzplatz gefunden und lehnten an der Mauer. Vom Tauchklub waren auch alle da. Außer Kira, die Einzige aus dem Tauchklub, die Iris in ihren Kreis hineingelassen hatte, kannte Mira von ihnen niemanden persönlich.

      „Der da i…ist von der Po…Po…Polizei.“ Ulla war wieder an ihrer Seite. Sie flüsterte, wie man es immer in einer Kirche tat. „Ha…Ha…Hauptk…kommissar.“

      Mira blickte zu dem Mann, in dessen Richtung Ulla genickt hatte. Er trug einen schwarzen, knielangen Wollmantel und hatte einen gestreiften Schal von Boss Black um den Hals gewickelt; ihr Vater hatte auch so einen. Die Hände hielt er hinter dem Rücken und er erinnerte sie an einen Offizier, der seine Kompanie vor einer Parade musterte. Seine dunklen Augen glitten inspizierend, jedoch diskret, von einem zum anderen, und ohne zu wissen warum, versteckte sie sich unwillkürlich hinter ihrem Nebenmann, der glücklicherweise ein großer, korpulenter Mann war. Der Hauptkommissar sah nicht dänisch aus.

      „Was g…g…glaubst du, w…w…will er? Ob er wohl g…g…glaubt, dass der M…M…Mörder hier in der K…K…Kirche ist?“, flüsterte Ulla erschrocken weiter.

      Mira antwortete nicht. Ein Schaudern überkam sie und sie erstarrte, als sie über die Versammlung schaute und Jakobs Blick begegnete.

      Kapitel 5

      Der Bericht aus der Rechtsmedizin kam erst am nächsten Morgen. Zehn Minuten später rief Natalie Davidsen ihn an und entschuldigte sich für die Verspätung. Sie wollte mit ihm über den Inhalt sprechen.

      „Ach, ist das jetzt neuerdings üblich, dass Berichte übers Telefon erklärt werden?“, fragte Roland gemütlich, aber Natalie war deutlich nicht zu Scherzen aufgelegt.

      „Ich schätze, ich muss ihn mit dir durchgehen, Roland. Das ist kein gewöhnlicher Mord“, konterte sie trocken. „Wie immer haben wir mit einem CT-Scan angefangen. Das musste zügig gehen, da der Verwesungsprozess bei einer Leiche, die eingefroren war und auf Zimmertemperatur aufgetaut wird, ziemlich schnell eintritt, weil die Zellen von dem Eis beschädigt werden. Der Scan zeigte, dass mehrere Knochen alte und neue Brüche aufweisen. Der linke Arm war an zwei Stellen gebrochen und es sieht nicht so aus, als wären die Brüche behandelt worden, weil sie schief zusammengewachsen sind. Einige der Brüche sind erst ein paar Monate alt. Zwei Finger sind hintenüber bei den Knöcheln gebrochen.“

      „Hintenüber? Ist das passiert, nachdem sie verschwand?“

      „Ja, daran besteht kein Zweifel. Es gab ja keine Kleidung, sodass die äußere Untersuchung schnell vonstattenging. Sie war wahrscheinlich nackt, seit sie getötet wurde. Die Haut ist mit Rissen und Wunden übersät, besonders am Rücken, aber es ist schwer zu sagen, woher sie stammen. Schau mal, was du anhand der Bilder herausbekommst.“

      Roland studierte sie. „Sieht aus, als ob sie über etwas gezogen wurde, das ihre Haut geschnitten und zerkratzt hat.“

      Roland konnte hören, dass Natalie nickte; ihre Haare oder der Stoff ihres Kittels raschelten am Telefon.

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