Zurück auf Gestern. Katrin Lankers
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Lulus Ellenbogen landete unsanft in meinen Rippen, und mir wurde im Wortsinn schmerzhaft bewusst, dass Frau Dr. No abwartend neben uns stand.
Ihr Gesicht war wie immer starr wie eine Maske – zu viel Botox, wurde in unserer Klasse gelästert – nur ihre schmalen Brauen, die aussahen wie mit dem Bleistift gemalt, hatte sie fast bis zum Haaransatz hochgezogen. Darunter betrachtete sie mich ungeduldig, als erwarte sie von mir die Lösung für irgendeine komplizierte Gleichung.
Frau Dr. Nowottny – von uns bloß Frau Dr. No genannt – unterrichtete unsere Klasse seit Anfang des Schuljahres in Mathe. Und sie hatte es innerhalb weniger Tage geschafft, sich bei allen unbeliebt zu machen. Bei allen außer meiner Streberstiefschwester Sophie natürlich.
Das lag daran, dass Frau Dr. No am Anfang jeder Stunde eine Reihe komplizierter Gleichungen an die Tafel schrieb und jemanden nach vorne bat, der die Aufgaben dann vor der ganzen Klasse lösen musste. Lulu und mich hatte das auf die Idee gebracht, die Tafel mit Schmierseife zu wischen. Wir fanden es einfach witzig, uns vorzustellen, wie sie auf der eingeseiften Tafel vergeblich versuchen würde, die Aufgaben anzuschreiben.
Später stellte sich leider heraus, dass das Ganze keine wirklich witzige Idee war, weil Frau Dr. No unglücklich auf einer Pfütze ausrutschte und drei Wochen lang in einem Gips herumhumpeln musste. Auch wenn sie nie beweisen konnte, dass wir für den Seifenanschlag verantwortlich waren, fürchtete ich, dass sie einen Verdacht hegte. Und das verbesserte unser Verhältnis nicht unbedingt.
»Ich sagte, ihr könnt den Kuchen da vorne aufs Buffet stellen.«
Ihr Blick bohrte sich in meinen, wanderte hinab zu den Tupperdosen, schien einen Moment zu lang knapp über meinem Herz zu verweilen und kehrte zu meinem Gesicht zurück. Unter den Augen von Frau Dr. No fühlte ich mich immer wie in einem Nacktscanner am Flughafen. Prompt hatte ich Sorge, die Antwort nicht zu kennen, dabei hatte sie mir gar keine Frage gestellt.
»Viel Spaß, ihr zwei«, sagte sie genau in dem Moment, als Lulu und ich es endlich schafften, uns aus ihrem Bannblick zu lösen und zum Buffet zu steuern.
»Äh, danke«, brachte ich entgeistert heraus.
»Was war das denn?«, raunte Lulu mir zu.
»Keine Ahnung, womöglich ein unerwarteter Anflug von Freundlichkeit«, antwortete ich, als wir uns weit genug von Frau Dr. No entfernt hatten, damit sie es nicht mehr hören konnte.
»Vielleicht hat sie sich aber auch was eingefangen«, mutmaßte Lulu. »Aktuell soll ein fieser Virus rumgehen.«
»Hm«, machte ich, hatte aber Frau Dr. No bereits wieder vergessen. Denn quer durch die Halle beobachtete ich Lucas, der sich neben Sophie stellte und etwas zu ihr sagte, woraufhin meine Stiefschwester zu lachen anfing und dabei ihren Kopf mit einer Bewegung zur Seite drehte, die ihre langen blonden Haare von einer Schulter zur anderen schwingen ließ. Jetzt lachte auch Lucas. Er hatte ein wirklich schönes Lachen, das wusste ich, obwohl ich es in diesem Moment nicht hören konnte, und ich fand, dass es an jemanden wie Sophie vollständig vergeudet war. Schwungvoll knallte ich die Tupperdosen aufs Buffet.
»Weißt du, was Lucas mit Sophie zu schaffen hat?«, fragte ich Lulu, die ihre Dosen bereits abgestellt hatte und sich in der Sporthalle umschaute, die sich nach und nach mit immer mehr Leuten füllte.
»Nee, wieso?« Lulu betrachtete jetzt ebenfalls die Gruppe vor der Bühne und zog einen kleinen, spitzen Kussmund. »Aber ich finde, die zwei passen super zusammen. Mein blöder Bruder und deine fiese Schwester, ein echtes Traumpaar. Und sie lebten unausstehlich bis ans Ende ihrer Tage …« Lulu grinste.
Ich fand das überhaupt nicht lustig, doch das konnte ich ihr natürlich nicht sagen. Also beschränkte ich mich auf ein weiteres »Hm« und feuerte ein paar böse Blicke in Sophies Richtung, die eigentlich ihren Schädel hätten durchbohren und ihr grauenhafte Schmerzen hätten verursachen müssen, wovon sie leider nichts zu spüren schien.
»Hey, Mädels, da seid ihr ja wieder.« Samuel Sauermann tauchte neben uns am Buffet auf. »Habt ihr den Kuchen eingefangen?« Er ließ seine Finger über den Tupperdosen kreisen und griff dann gezielt nach dem Törtchen mit den schwarzen Sprenkeln.
»Lecker, ich mag Mohn!«
Mist! Ich hatte mich von Sophie und Lucas ablenken lassen und darüber ganz vergessen, die Dose mit den verseuchten Törtchen klammheimlich unter dem Buffet verschwinden zu lassen.
»Stopp«, rief ich in letzter Sekunde und hängte mich an Samuels Arm, sodass ihm der kleine Kuchen aus der Hand fiel und er mit offenem Mund und einem ziemlich perplexen Gesichtsausdruck zurückblieb.
»Sorry, aber die mit Mohn sind ausschließlich für die Lehrer vorgesehen«, stammelte ich, was zugegeben eine ziemlich abstruse Ausrede war, doch auf die Schnelle fiel mir keine bessere ein.
»Okay«, erwiderte Samuel zweifelnd und betrachtete mich mit einem Blick, als wäre ihm bereits seit der Sache mit dem Badmintonschläger klar, dass er eine Verrückte vor sich hatte, die man nicht übermäßig aufregen durfte.
»Hier, nimm eins mit Kokos.« Ich griff in die Box mit den Törtchen, die nicht auf dem Boden gelandet waren. »Oder eins mit Marzipan. Oder magst du lieber eins mit Mandeln? Oder hier, mit Bohnen?«
Mit jedem Törtchen, das ich aus der Box nahm, weiteten sich Samuels Augen ein bisschen mehr vor Verwunderung. Wahrscheinlich hörte ich mich an wie eine hysterische Bäckereifachverkäuferin.
»Ich glaube, ich hab doch keinen Hunger«, sagte er schließlich. Und ich war sehr dankbar, dass Echtzeit genau in diesem Moment zu spielen anfing.
Lulu, die noch immer keinen Ton herausgebracht hatte, fing sofort wie ferngesteuert an, im Takt der Musik mitzuwippen.
Lulu tanzt für ihr Leben gern und sie tanzt wie gesagt fantastisch, im Gegensatz zu mir – ich sehe auf der Tanzfläche aus, als stünde ich unter Starkstrom.
»Hast du vielleicht Lust zu tanzen?«, fragte Samuel sie, ganz klar in dem Bestreben, so schnell wie möglich von mir wegzukommen.
Lulu warf mir einen fragenden Blick zu, und als ich heftig nickte, lächelte sie Samuel glücklich an und steuerte mit ihm Richtung Tanzfläche. Somit hatte meine peinliche Aktion wenigstens etwas Gutes gehabt.
Als die zwei zwischen den vielen Leuten verschwunden waren, die mittlerweile die Tanzfläche verstopften und mir den Blick auf die Bühne versperrten, ließ ich als Allererstes die Tupperdose mit den Törtchen des Grauens unter dem Tisch verschwinden. Zwei weitere – saubere Törtchen – wanderten in meinen Mund.
Schließlich lehnte ich mich gegen das Buffet, betrachtete das Gedränge und wusste plötzlich nichts mehr mit mir anzufangen. Aus meiner Klasse konnte ich niemanden entdecken, mit dem ich Lust gehabt hätte zu quatschen. Ich wollte aber auch nicht von meinem Platz am Buffet weggehen, weil ich Sorge hatte, dass Lulu mich ansonsten nicht mehr finden würde.
Also lauschte ich dem Konzert von Echtzeit und sang im Kopf jeden einzelnen