Zurück auf Gestern. Katrin Lankers

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Zurück auf Gestern - Katrin Lankers

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mir ohne Vorwarnung den Dosenstapel in den Arm, um ihrer Mutter vehement zum Abschied zu winken. Tatsächlich trat Marisa daraufhin so kräftig aufs Gas, dass der babyblaue Twingo unter vernehmlichem Protest losbrauste. Sie hupte dreimal laut zum Abschied und verschwand.

      Das bekam ich allerdings nur aus dem Augenwinkel mit. Denn ich war vollauf mit dem Versuch beschäftigt, die schwankenden Tupperdosen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Was leider nicht funktionierte! Die Dosen mit ihrem süßen Inhalt rutschten, stürzten und landeten eine über der anderen mit lautem Poltern auf dem Schulhof. Eine der Boxen verlor prompt ihren Deckel, sämtliche Törtchen kullerten heraus und verteilten sich um meine Füße auf dem Schulhof.

      »Achtung, die Schwerkraft ist heute wieder besonders heimtückisch«, vernahm ich eine mir nur allzu vertraute Stimme. Und schon wehte meine Stiefschwester Sophie in einer süßlichen Parfümwolke durch das Schultor herein, dicht gefolgt von ihren zwei unvermeidlichen Begleiterinnen, Doreen und Daphne. Lulu und ich hatten Sophies Schatten der Einfachheit halber die Doppel-Ds getauft, was sowohl ihrem gut gepolsterten Brustumfang als auch ihrer Intelligenz – doppelt doof – entsprach.

      Eigentlich passten die beiden gar nicht zu meiner Stiefschwester. Ich vermutete, sie waren nur mit ihr befreundet, weil sie sie gelegentlich die Hausaufgaben abschreiben ließ. Und Sophie konnte froh sein, überhaupt Freundinnen zu haben.

      »Um deine feinmotorischen Fähigkeiten würde dich jede Dampfwalze beneiden.« Mit hocherhobener Nase schritt Sophie an mir und dem Törtchendesaster vorbei. Die Doppel-Ds folgten ihr kichernd, dabei war ich mir ziemlich sicher, dass sie nicht wussten, was feinmotorische Fähigkeiten überhaupt waren.

      »Und auf deine emotionale Intelligenz wäre jeder Zombie neidisch«, rief Lulu Sophie hinterher, aber meine Stiefschwester streckte bloß ihr Näschen noch etwas höher gen Himmel und klapperte Richtung Sporthalle davon, von wo bereits die gedämpften Bässe des Soundchecks zu uns drangen. Dass Sophie es sogar auf hohen Hacken schaffte, grazil wie eine Primaballerina herumzutrippeln, war ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass wir aus komplett unterschiedlichen Genpools stammten.

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      Sophie und ich waren am ersten Tag in der Grundschule nebeneinandergesetzt worden. Sie war diejenige mit den geflochtenen Bauernzöpfen, aus denen am Ende des Vormittags keine einzige Strähne herausstand. Ich war diejenige, die den Pausenkakao über sich schüttete. Sie war die mit dem Querflötenunterricht, ich diejenige, die selbst mit einer Blockflöte überfordert war. Sie war diejenige, die den Lük-Kasten im Akkord löste. Ich war diejenige, die vier Schulstunden lang den Vögeln vor dem Fenster beim Loopingfliegen zuschauen konnte. Und sie war dann diejenige, die bei unserer Klassenlehrerin petzte, dass ich versucht hatte, die Rechenaufgaben bei ihr abzuschreiben. Es dürfte nun wirklich niemanden überraschen, dass Sophie und ich uns vom ersten Tag an nicht ausstehen konnten.

      Dummerweise war es meinem Vater und Sophies Mutter völlig anders ergangen, als sie sich beim Elternabend über den Weg gelaufen waren. Und sie hatten sogar geglaubt, uns etwas Gutes zu tun, als sie nur ein knappes Jahr später den Bund der Ehe eingegangen waren.

      Ich versuchte, mich seither mit dem Gedanken zu trösten, dass auch viele andere Menschen es nicht leicht in ihrem Leben haben. Manche haben eine Warze im Gesicht, andere kreisrunden Haarausfall, und es gibt zahllose Menschen auf der Welt, die unter wirklich schweren Krankheiten, Armut und Hunger zu leiden haben.

      Und ich hatte eben Sophie. Ich bemühte mich, diese Prüfung positiv zu betrachten. Ihre täglichen Sticheleien zu ertragen, verschaffte mir langfristig bestimmt ein paar Karma-Pluspunkte, sodass ich vielleicht irgendwann mal als Schmetterling statt als Regenwurm wiedergeboren werde.

      Leider trafen Sophies Sticheleien regelmäßig ins Schwarze, zum Beispiel, was meine motorischen Fähigkeiten anging. Um die war es gelinde gesagt eher bescheiden bestellt. Für den Sportunterricht brauchte ich mir inzwischen keine Entschuldigungen mehr auszudenken, weil Herr Helmich, unser Sportlehrer, fast dankbar zu sein schien, wenn ich am Rand sitzen blieb. Wenn ich versuchte, Sport zu treiben, brachte ich grundsätzlich mich oder andere in Lebensgefahr. Immerhin gingen bereits zwei Platzwunden auf mein Konto, eine an meinem eigenen Kopf (Barren) und eine am Kopf von Samuel Sauermann (Badmintonschläger).

      »Die gehen noch, man muss nur den Dreck ein bisschen abkratzen.« Lulu kniete zu meinen Füßen, sammelte die verstreuten Törtchen ein und legte sie zurück in die Tupperdose.

      »Meinst du wirklich? Das ist doch irgendwie eklig.« Ich hockte mich zu ihr und hob eins der Sahnetörtchen mit spitzen Fingern vom dreckigen Boden auf. Es war so über und über mit Schotter gesprenkelt, dass es aussah wie ein Mohnmuffin.

      »Quatsch. Dreck reinigt den Magen.« Lulu brach eine Ecke von einem Kokostörtchen ab, die besonders matschig wirkte, und stellte es neben das Mohn-Sahnetörtchen.

      »Na ja.« Ich beschloss, die Tupperdose heimlich verschwinden zu lassen, bevor Lulu sie auf dem Buffet platzieren konnte. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass unsere Mitschüler eine Lebensmittelvergiftung erlitten.

      »Ich wusste gar nicht, dass wir statt einer Party ein Picknick veranstalten.«

      Ich sah an den Beinen in Baggy Jeans hinauf, die neben mir aufragten, und direkt in Samuel Sauermanns Gesicht, der schallend über seinen eigenen schwachen Scherz lachte.

      »Im Ernst, Mädels, braucht ihr Hilfe?« Samuel hörte auf zu lachen und lächelte uns stattdessen breit an.

      »Brauchen wir Hilfe?« Ich schaute Lulu herausfordernd an, aber die hatte wie immer, wenn Samuel irgendwo auftauchte, kurzzeitig das Sprechen verlernt.

      Alle Mädchen in unserer Klasse waren in Samuel Sauermann verliebt. Alle außer mir. Sogar Lulu fand ihn traumhaft, was er nach allen Maßstäben der Mister-Dream-Skala vermutlich auch war. Samuel sah spitzenmäßig aus – wie eine Mischung aus Austin Butler (der Mund), Liam Hemsworth (die Augen) und Manuel Neuer (das breite Kreuz). Seit dem Badmintonschlägerattentat hatte er eine kleine Narbe an der rechten Braue, die ziemlich sexy wirkte. Samuel war außerdem sportlich, sehr sportlich um genau zu sein. Er schwamm in der ersten Wettkampfmannschaft seines Vereins und hatte bereits jede Menge Medaillen gewonnen. Weil durch den Sport die Schule manchmal etwas kurz kam, musste er letztes Jahr eine Klasse wiederholen. Deshalb war Samuel ein Jahr älter als wir und schien der Phase, in der alle Jungs sich verhielten wie minderbemittelte Kleinkinder, schon entwachsen zu sein.

      Man könnte jetzt glauben, dass Samuel arrogant wäre und sich mit uns nicht abgeben wollte, aber das Gegenteil war der Fall. Er war bei allen beliebt und zu jedem nett, sogar zu mir, obwohl ich ihn mit dem Badmintonschläger attackiert hatte. Er hielt nur seitdem einen gewissen Sicherheitsabstand zu mir ein, wenn er in meine Nähe kam.

      Das Einzige, was an Samuel nicht perfekt war, war seine minimal zu hohe Stimme. Wenn er den Mund aufmachte, klang es, als hätte er versehentlich einen Zug aus einer Heliumflasche inhaliert. Ein bisschen wie Micky Maus. Niemanden außer mir schien das zu stören, auch nicht Lulu. Sie war heftig und bis auf Weiteres unglücklich in Samuel verliebt, und mir war es unter Androhung der Todesstrafe verboten, ihn Mister Micky Maus zu nennen.

      »Ich glaube, wir haben schon alles aufgesammelt«, antwortete ich an Lulus Stelle.

      Samuel streckte seine Hand aus, um mir hochzuhelfen, schien allerdings in letzter Sekunde zu realisieren, dass er die Badmintonschlägerattentäterin vor sich hatte, und schwenkte in Lulus Richtung um. Aber meine Freundin, zu überwältigt von Samuels unverhoffter Aufmerksamkeit, ignorierte das Angebot und kam allein wieder auf die Beine. Die Situation hätte ziemlich peinlich werden können, doch Samuel deutete einfach mit der verschmähten helfenden Hand zum Eingang der Sporthalle

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