Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1. Inger Gammelgaard Madsen
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Kamilla warf die welken Blumen in den Abfalleimer auf dem Friedhof. Wann immer sie sich zwang, die eigenen vier Wände zu verlassen, begab sie sich zu dieser Bank auf dem Friedhof des Aarhuser Vororts Egå, zu dem sie es nicht weit hatte. Hier saß sie dann, gegenüber von Rasmus’ Grab, und starrte auf den runden Marmorstein, der in goldenen Lettern seinen Namen trug. Darunter der Text: »Brutal aus dem Leben gerissen – für immer vermisst.«
Der Friedhof war ein schöner, friedvoller Ort, besonders zu dieser Jahreszeit und ganz speziell jetzt, da die Sonne schien und die Blumen auf den vielen Gräbern in voller Blüte standen.
Als Kind hatte sie vor Friedhöfen Angst gehabt und sich gefürchtet, wenn sie in der Dunkelheit an einem vorbeigehen musste. Sie hatte sich immer vor der Dunkelheit gegraust. Sie war in Horsens aufgewachsen, fünfzig Kilometer weiter südlich, wo es ganze drei Friedhöfe gab. Einer davon, Nordre Kirkegård, hatte nahe ihrer Schule gelegen, und wenn sie an den dunklen Wintermorgen, an denen ihr die Kälte in die Wangen biss, vorbeigelaufen war, hatte sie hineingeschielt und ihre Angst vor den Toten gespürt. Ihr Vater lag dort begraben. Sie war sieben Jahre alt gewesen, als er starb, und sie erinnerte sich nur schwach daran, wie sie seinen Sarg ins Grab hinabgelassen hatten. Der Gedanke, dass er dort tief in der Erde in einer Holzkiste lag, hatte bei ihr Klaustrophobie ausgelöst. Der Schularzt hatte geglaubt, dass sie an Asthma litt. Sie war nicht oft an seinem Grab gewesen, auch nicht als Erwachsene. Im Übrigen hatte sie auch kein enges Verhältnis zu ihm gehabt, als er noch lebte. In ihrer Erinnerung hatte sich einzig sein Geruch nach Fisch festgesetzt, wenn er abends müde von seiner harten Arbeit bei einem Fischexporteur im Örtchen Snaptun nach Hause gekommen war und ihr abwesend über die Wange streichelte. Sie erinnerte sich an keine gemeinsamen Erlebnisse oder herzliche Umarmungen. Letzteres galt übrigens auch für ihre Mutter. Die Mutter war in einer von der Inneren Mission geprägten frommen Fischerfamilie an der rauen jütländischen Nordseeküste aufgewachsen, aber in ihrer Jugend hatte sie gegen ihre pietistische Familie rebelliert und war an die Ostküste gezogen, um zu studieren. Noch bevor sie mit dem Studium anfangen konnte, lernte sie den Fischereiarbeiter kennen und heiratete ihn. Aber die Prägungen ihrer Kindheit und ihrer strengen Erziehung ließen sie nicht los. Nachdem der plötzliche Tod ihres Mannes aus ihr eine junge Witwe mit einer siebenjährigen Tochter gemacht hatte, betrachtete sie diesen Verlust als eine Strafe Gottes, den sie verleugnet hatte. Sie wurde verbittert und verschlossen und lebte fortan ein Leben ohne Freude. Den tragischen Tod ihres Enkels empfand sie dann ebenfalls als eine Strafe. Der Fluch Gottes werde die ganze Familie für den Rest ihres Lebens verfolgen und Gott werde alle, die wir lieben, von uns nehmen, weil wir gesündigt hätten, wurde sie nicht müde zu predigen.
Nur Kamilla und ein älterer Herr befanden sich auf dem Friedhof. Er legte gerade Blumen auf ein Grab oben an der blendend weißen Kirche. Sie fand die Kirche schön. Der älteste Teil stammte noch aus romanischer Zeit, der Turm und das sogenannte Waffenhaus waren spätgotisch. Auf der Nordseite der Kirche waren die Spuren einer zugemauerten Tür sowie mehrere zugemauerte romanische Fenster zu erkennen. Aber so alt die Kirche auch war, sie beherbergte eine moderne Kirchengemeinde. Das Kirchenpersonal, sowohl was die Pfarrer als auch was die übrigen Angestellten anging, bestand hauptsächlich aus Frauen – was beinahe zur Folge gehabt hätte, dass Kamillas Mutter die Kirche bei Rasmus’ Beisetzung rückwärts gleich wieder verließ. Auch gegen die ungewöhnliche Beerdigungszeremonie hatte ihre Mutter etwas einzuwenden gehabt, so dass sie früh und ohne ein tröstendes Wort wieder gegangen war. Sie hatte wohl nicht unnötig weiteres Unglück von oben herabbeschwören wollen.
Kamilla stand auf und wischte sich die Erde von der abgetragenen Jeans. Auf beiden Knien waren dunkle nasse Flecken. Die hatte sie sich vorhin geholt, als sie das Grab gerichtet und dabei leise zu Rasmus gesprochen hatte. Vom Erbrochenen war auf ihrem Schuh nichts mehr zu erkennen, aber allein der Anblick des Schuhs reichte aus, um ihr Unwohlsein zurückkehren zu lassen. Sie war froh, dass die Polizei das kleine Mädchen schon von der Fundstelle entfernt gehabt hatte. »Zehn Jahre alt«, hatte sie einen Journalisten zum anderen sagen hören. Nur ein Jahr älter, als Rasmus gewesen war. Auch er war ermordet worden. Ein anderer Mensch hatte ihm rücksichtslos das Leben geraubt – war das etwa kein Mord?
Unter den Strahlen der Sonne ging sie langsam nach Hause. Ihre Beine erschienen ihr schwer, als könnten sie sie nicht mehr heim ins leere Haus tragen. Der Albtraum der Nacht saß ihr noch immer in den Knochen und nagte hartnäckig an ihrem Gemüt. Als sie in ihre Wohnung trat, sah sie draußen die Katze. Sie stand aufrecht vor der Terrassentür, die Vorderpfoten kratzend auf das Glas gelegt, und miaute. Sie konnte den Laut nicht hören, sah aber, wie sich ihr Mund mit den spitzen Eckzähnen stumm öffnete.
Sie öffnete die Tür, und die Katze lief schnell in die Küche zum Futternapf, der dort stets für sie bereitstand. Lächelnd zog Kamilla ihre Jacke aus. Durch die Katze kam wenigstens ein wenig Leben ins Haus. Rasmus hatte ihr hartnäckig damit in den Ohren gelegen, dass sie sich doch eine Katze anschaffen sollten, aber sie hatte es immer entschieden abgelehnt. Die Möbel sollten nicht von Katzenkrallen ruiniert werden; außerdem wollte sie nicht, dass sie selbst alle Verantwortung für das Tier tragen musste, sobald Rasmus das Interesse verlor, wie es sowohl mit dem Hamster als auch mit dem Kaninchen der Fall gewesen war. Aber jetzt genoss sie es, das kleine Tier bei sich zu haben. Eines Morgens hatte die Katze an ihrer Tür gesessen, und Kamilla hatte sie sofort als eine Art Gesandte von ihm betrachtet. Sie sah aus wie eine schwarze Norwegische Waldkatze, trug aber kein Halsband oder ein anderes Zeichen, wodurch der Besitzer sie hätte ausfindig machen können. Fortan war die Katze bei ihr geblieben, und sie hatte sie auf den Namen getauft, von dem Rasmus im Spaß gesagt hatte, er würde ihn seiner Katze geben, sobald es ihm erst einmal gelungen sei, seine Mutter zu dieser Anschaffung zu überreden: Tarzan.
Kamilla nahm sich einen Apfel aus der Obstschale auf dem Küchentisch. Sie hatte keine Lust, etwas zu kochen, obwohl sich ihr Magen hohl und leer anfühlte – wie auch der ganze Rest ihres Körpers. Das Obst war schön in einer Glasschale arrangiert, wie für eine Fotoaufnahme – eine Gewohnheit, die sie noch immer nicht abzulegen vermochte, obwohl sie es versuchte. Eine Berufskrankheit, so konnte man es vermutlich nennen. Auch im Badezimmer waren die Cremes und Parfüms auf dem Spiegelbrett aufgereiht, als handele es sich um eine Präsentation in einem Kosmetikkatalog. Jeder konnte sofort sehen, dass sie entweder einen besonderen Sinn für Arrangement hatte oder schlicht pedantisch war. Aber Letzteres war sie bestimmt nicht. Das Haus war ein handgreiflicher Beweis dafür. Es war eigentlich nicht ihre Art, in Unordnung zu leben, aber die Ohnmacht, die sie das gesamte letzte Jahr über empfunden hatte, hatte ihr nicht eben viel Energie übrig gelassen. Schon gar nicht fürs Aufräumen.
Sie ging mit ihrer Kamera ins Arbeitszimmer hinüber und fuhr den Mac hoch. Als das »Mac OS X«-Symbol auf dem Bildschirm erschien, schloss sie die Kamera an und übertrug die Fotos von der Speicherkarte auf die Festplatte. Danach öffnete sie ihr bevorzugtes Bildbearbeitungsprogramm und wählte im Menü den Reiter »Show All«. Jetzt bekam sie eine Übersicht über alle Fotos, die sie beim und im Container aufgenommen hatte. Sie biss in den Apfel und ließ stirnrunzelnd ihren Blick über die Aufnahmen gleiten. Sie waren nichts Besonderes, aber Anne hatte sie sich zuvor bereits auf dem Display der Kamera durchgesehen und gemeint, dass sie immerhin das kranke Wesen des Mörders zum Ausdruck brachten – wie konnte ein Mensch ein Kind an einem solchen Ort hinterlassen? Um einmal völlig auszublenden, was er zuvor so mit ihr gemacht hatte, natürlich. Darüber hatte Anne auch nichts Näheres erfahren können, als sie mit ihrem Handy auf der Polizeiwache angerufen hatte. Das Mädchen sei noch nicht identifiziert, hatte man ihr mitgeteilt, und schon aus Rücksicht auf die Angehörigen wolle die Polizei in dieser Sache vorerst keine Informationen herausgeben.
Kamilla brauchte ein wenig Zeit, um die besten Fotos auszuwählen und zu bearbeiten. Einige waren recht dunkel geraten, aber durch geschickte Einstellung der Helligkeit und der Kontraste ließ sich das leidlich beheben; die Qualität war also in Ordnung. Sie hatte vor wenigen Jahren einen Kurs für Bildbearbeitung