Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1. Inger Gammelgaard Madsen

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Der Schrei der Kröte - Roland Benito-Krimi 1 - Inger Gammelgaard Madsen Roland Benito-Krimi

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      Die Århus Stiftstidende, die große Tageszeitung der Stadt, lag auf dem Couchtisch im Wohnzimmer. Sie setzte sich aufs Sofa und blätterte rasch durch die Seiten, bis sie das Fernsehprogramm gefunden hatte. Jetzt, in der Sommerzeit, rechneten die Sender offenbar nicht damit, dass irgendwer Lust auf Fernsehen hatte, so dass das Programm noch schlechter war als sonst und fast nur noch aus Wiederholungen bestand – Déjà-vu im buchstäblichen Wortsinn. Sie warf die Zeitung zur Seite, schaltete aber trotzdem die Glotze ein und zappte zum Sender TV 2 News. Sie landete mitten in einer Reportage über den Kindermord in Aarhus.

      »... das Mordmotiv ist noch unbekannt, aber es wird vermutet, dass es sich um ein Sexualverbrechen handeln könnte.« Sie wunderte sich, woher die Fernsehreporter diese Information hatten, wo sich doch niemand auf der Polizeiwache hatte äußern wollen.

      »Das Mädchen konnte noch nicht identifiziert werden, und aus Rücksicht auf die Angehörigen hat die Polizei zunächst davon abgesehen, nähere Details bekanntzugeben«, fuhr die Stimme fort. Die Bilder des rostigen Containers und des Absperrbandes in den rot-weißen Farben der dänischen Flagge flimmerten über den Bildschirm.

      »Wir werden Sie mit Neuigkeiten über den Fall auf dem Laufenden halten«, versprach der Nachrichtensprecher. Hierzu wurden weitere Berichte in den Sendern TV 2 News und TV 2/Østjylland angekündigt, aber Kamilla war nicht danach, sie sich anzuschauen, und am liebsten wollte sie sowieso alles einfach vergessen. Doch obwohl sie sich noch immer todmüde fühlte, war es ihr dennoch, als sei da ein Funken neuer Energie in ihr erwacht, der nun in ihr glühte, ihr Wärme und Kraft gab. Es war ein gutes Gefühl, wieder zu arbeiten, das musste sie zugeben. Vielleicht hätte sie doch auf Majken hören sollen, die ihr schon seit langem einschärfte, sich zu zwingen, einfach einmal etwas anderes zu unternehmen, als nur den Friedhof zu besuchen. Weiterkommen, einen neuen Schritt tun. Sich nicht einfach vor der Welt zurückziehen. Aber das war leichter gesagt als getan. Dass ihr ein ekliger Container, in den jemand ein ermordetes Mädchen weggeworfen hatte, die Motivation liefern sollte, wieder mit dem Fotografieren anzufangen, wäre ihr im Traum nicht eingefallen.

      Im Schlaf ruckte Tarzan irritiert mit dem Kopf und spitzte die Ohren. Von fern ertönte schwach das Klingeln ihres Handys. Es lag noch in der Tasche im Flur. Sie erreichte es gerade noch rechtzeitig.

      »Kamilla, hast du denn unsere Verabredung vergessen? Restaurant Egå Marina!?«

      »Majken! Mein Gott ja, das hab ich tatsächlich total verschwitzt. Entschuldigung.« Sie warf einen resignierten Blick auf ihre schmutzige Jeans. »Ich zieh mich nur noch rasch um – ich beeil mich auch.«

      Bevor sie ins Badezimmer ging, warf sie noch einen kurzen Blick auf den Abwasch in der Spüle, die schmutzigen Kaffeetassen und die leeren Gläser auf dem Couchtisch. Gut, dann würde sie eben auch jetzt nicht zum Aufräumen kommen. Majken hatte schon so oft versucht, sie aus ihrer finsteren Bude ans Licht zu zerren, bis sie schließlich ihre Einladung zu einem gemeinsamen Essen auswärts akzeptiert hatte – und dann vergaß sie die ganze Sache! Was war aus ihrem gut organisierten Leben geworden? Immerhin gut, dass Majken nicht gekommen war, um sie abzuholen. Bisher war es ihr immer gelungen, zumindest oberflächlich aufzuräumen, wenn sie Besuch erwartete. Unerwartete Gäste mochte sie nicht.

      7

      Roland würde sich nie an jene Räumlichkeiten gewöhnen, in denen sich Henry Leander offenbar sehr wohlfühlte. Jedes Mal, wenn Roland durch die Tür zum Obduktionssaal im Institut für Rechtsmedizin trat, gerieten seine Eingeweide in eine rollende Bewegung, die er bis in den Rachen hinauf spüren konnte – zusammen mit dem bitteren Geschmack von Galle. Das war nicht etwa so, weil es dort drinnen schmutzig gewesen wäre oder einem beim Eintreten ein übler Geruch entgegenschlug. Die Räume waren vielmehr klinisch sauber, kalt und steril. Letztlich war sein eigenes Büro dreckiger. Vielleicht war es bloß der Gedanke an all das, was er auf den sterilen Stahltischen gesehen hatte, was dieses Gefühl in ihm hervorrief – und nicht zuletzt die Vorstellung, was ihn jetzt dort erwartete, wenn er das kleine Mädchen vor sich liegen sehen musste. Verbrechen gegen Kinder lösten an sich schon einen unerträglichen Brechreiz bei ihm aus.

      Die anderen waren bereits eingetroffen: Henry Leander, der staatliche Rechtsmediziner Ole Albertsen und ein Arzt, den er nicht kannte, sowie Vizepolizeidirektor Kurt Olsen und Kriminaltechniker Steen Dahl, der mit seiner Kamera bereitstand.

      »Haben wir immer noch keine Vermisstenanzeige?«, raunte ihm Kurt Olsen leise zu. Es herrschte eine Atmosphäre wie bei einer Beerdigung. »Nein, nicht für ein Mädchen in diesem Alter. Es werden zwei fünfzehnjährige Freundinnen gesucht, aber die treiben sich höchstwahrscheinlich nur irgendwo herum«, flüsterte Roland genauso leise zurück. Dann konzentrierten sie sich beide auf Leander, der nun feierlich seinen Kopf in die Höhe reckte und das Wort ergriff.

      »Das Mädchen wurde erdrosselt. Hier sieht man die Male von Fingern am Hals.« Er zeigte auf eine Reihe blauschwarzer und lila Spuren auf dem weißen Kinderhals. Steen Dahl machte Fotos.

      »Auch die dunkle, blauviolette Farbe der Leichenflecken ist ein Zeichen für Sauerstoffmangel im Blut zum Todeszeitpunkt.« Leander ließ nun seinen deutenden Zeigefinger zu den Augen des Mädchens emporwandern, die an die Decke starrten.

      »Die klassischen Merkmale einer Erdrosselung – die kleinen punktförmigen Blutungen in den Augen – sind ebenfalls deutlich zu erkennen. Sie entstehen, wenn die vom Gehirn wegführenden Blutadern blockiert werden, so dass das Blut nur zum Gehirn geführt werden kann. Wenn das passiert, entsteht in den Adern ein Überdruck und die kleinen Blutadern platzen, wodurch sich diese kleinflächigen Hautblutungen bilden. Sie können auch an der Gesichtshaut, hinter den Ohren oder im Mund vorkommen.«

      Steen Dahl beugte sich über den Stahltisch und machte ein Foto von den Augen, die, als nun das Blitzlicht sie traf, für einen kurzen Moment einen ganz lebendigen Ausdruck annahmen.

      »Es braucht nicht viel Kraft, um so ein kleines Kind zu erwürgen, daher können wir nicht ausschließen, dass der Täter auch eine Frau gewesen sein könnte.«

      »Gibt es sonst noch etwas, was darauf hindeuten könnte?«, fragte Kurt Olsen und kratzte sich am Nacken. Seine Haare wurden langsam zu lang und wellten sich wie sein Hemd, das ihm an einer Seite über die Hose hing. Überhaupt war seine ganze Person deutlich von der Tatsache gekennzeichnet, dass ihn neulich seine Frau verlassen hatte. Es war nicht einfach, im Polizeiberuf die Frauen zu behalten. Roland schätzte sich glücklich, dass er Irene hatte. Irene, die sich nie über die zeitweise vielen Überstunden und sein tagelanges Verschwinden in eine andere Welt beschwerte, wenn er einem Verbrechen nachforschte. Er hatte sie auf der Polizeiwache in Kopenhagen kennengelernt, wo sie damals als Sekretärin gearbeitet hatte. Vielleicht war das der Grund für ihr großes Verständnis. Sie wusste einigermaßen, womit sie es zu tun hatte.

      »Nein, nichts Spezielles. Ich erwähne es nur, weil wir von dieser Möglichkeit nicht absehen dürfen. Es gibt keine Anzeichen für einen sexuellen Übergriff. Keine Verletzungen, kein Sperma.«

      »Sie hat sich nicht verteidigt? Nicht gebissen, geschlagen, gekratzt? Hast du irgendwelche Spuren an ihren Fingernägeln gefunden?«, fragte Kurt Olsen.

      Leander hob eine Hand des Mädchens an und zeigte dem Vizepolizeidirektor ihre Fingernägel. »Wie du siehst, gibt es nicht viel abzuschaben. Sie hat an den Nägeln gekaut.« Die Nägel des Mädchens wiesen kleine Reste von rosarotem Nagellack auf, alles Übrige war abgeblättert. Alle waren sie bis ganz zu den Fingerkuppen abgenagt.

      »Der Tod trat sofort ein, ungefähr um fünf Uhr gestern Nachmittag.« Henry Leander sah das Mädchen liebevoll an. Roland nahm an, dass er während seiner Arbeit in beruhigendem Tonfall auf die Tote eingeredet hatte. Leanders weißer Bart hing leicht nach unten wie ein umgekehrter

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