Christentum und Europa. Группа авторов

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Christentum und Europa - Группа авторов Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)

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mittelmeerische Kultur im weitesten Sinne, deren Ausstrahlung weit über Europa hinausging; eine Europa-Idee besaß sie nicht. Daher verwende ich den Begriff des Euromediterraneums, was zudem den Vorteil hat, dass diese Kategorie anders als ›Europa‹ kaum mit irgendwelchen inhaltlichen Vorstellungen belastet ist. Wenn man aber Europa in einem nichtgeographischen Sinne verwendet, so meint das eine bestimmte geistige und politische Tradition, die in besonderer Weise mit dem Kontinent Europa verbunden ist, dabei aber in weiten Teilen der Welt prägend wurde, so dass man in Bezug auf Amerika und Australien von Europäischem sprechen kann. Man verwendet dann zur Verdeutlichung gerne eine weitere anfechtbare geographische Kategorie, nämlich »Westen«.4

      Was Europa im normativen Sinne gewöhnlich meint, ist der Traditionsstrang des euromediterranen Erbes, der sich auf Lateineuropa zurückbezieht, das sich als das Europa schlechthin empfindet und überrascht ist, wenn dies in anderen Teilen Europas, etwa im Osten, als arrogant gilt. Dieser Traditionsstrang ist mit Werten der Menschenrechte, der Freiheit, Toleranz und Rechtssicherheit verbunden, um nur einige Punkte hervorzuheben. Wenn ich heute von dem antiken Erbe spreche, beziehe ich mich fast ausschließlich auf Lateineuropa und die Länder, die in dessen Tradition stehen. Dies bedeutet unweigerlich eine Engführung: Was ich beiseite lasse, sind die in der griechischen Tradition stehende Orthodoxie und die sogenannten orientalischen Christentümer, die einerseits den Blick in Richtung Islam öffnen würden und die andererseits immer wieder in einem engen Austausch mit Europa standen – das ist zu bedauern, doch ist das Thema, so wie es bleibt, immer noch weit genug.5

      Lassen Sie mich mit einer schon angedeuteten vordergründigen Beobachtung beginnen: Der Bezug auf das Christentum und damit auf eine Religion des antiken Mediterraneums ist für das Selbstverständnis vieler Europäer nach wie vor wesentlich. Der Zeitrhythmus des antiken Christentums, die Woche mit dem Sonntag, ist bis heute fühlbar, desgleichen viele Feiertage; Kirchenbauten prägen nach wie vor das Bild europäischer Städte. Kein Zweifel kann ferner daran bestehen, dass zentrale Konzepte der westlichen Moderne wie das der Menschenrechte in irgendeiner Weise, die indes nicht leicht zu präzisieren ist, mit christlichen Einflüssen verbunden sind. Die Werte, die das deutsche Grundgesetz vertritt, lassen sich als christlich auffassen und sind mit der Präambel ausdrücklich in eine christliche, mindestens monotheistische, Tradition gestellt.6

       2. Exaptation

      Gerade das vorkonstantinische Christentum – und darauf konzentriert sich dieser Beitrag – bietet auf den ersten Blick eine Anmutung von Modernität, da es in einem hohen Maße Individualität freisetzte. Diese Intuition einer Affinität zur Moderne soll im Folgenden auf verschiedenen Feldern geprüft und historisiert werden. Dabei versuche ich zu verdeutlichen, dass mit der Entwicklung des vorkonstantinischen Christentums Semantiken entstanden, die hinsichtlich der westlichen Moderne im Sinne einer systemtheoretisch inspirierten Evolutionstheorie als Exaptationen betrachtet werden können. Das gleiche Phänomen wird in der Systemtheorie üblicherweise als preadaptive advance bezeichnet. Ein preadaptive advance ist nach Rudolf Stichweh eine Entwicklung, die zwar vorläufig in ein Sozialsystem eingepasst ist und deshalb überlebt, [wobei] ihr aber zu einem späteren Zeitpunkt eine soziale Funktion zuwächst, die es noch gar nicht gab, als diese (semantische) Erfindung auftrat.7 Sie sind, wie es Niklas Luhmann (1927–1998) in seiner ironischen Art sagt, Lösungen für Probleme, die noch gar nicht existieren. Erst in einer späteren Phase der Geschichte einer Gesellschaft hätten sie sich voll entwickelt.8 Das berühmteste Beispiel aus der Evolutionsbiologie sind die Federn von Dinosauriern, dann des Archaeopteryx, die für Vögel eine ganz neue Bedeutung erlangten. Als Begriff bevorzuge ich Exaptation, weil dieses Wort weniger leicht teleologisch missverstanden werden kann.

      In diesem Sinne dürften, so die These, Exaptationen, die mit frühen Christen verbunden waren und die vor allem textlich weitergegeben wurden, die Entstehung einer westlichen Moderne begünstigt haben. Dies soll aber nicht einfach zu einer fröhlichen Fortschrittsgeschichte geraten, denn den Begriff der »westlichen Moderne« verstehe ich keineswegs normativ, sondern beziehe mich auf die Selbstbeschreibung gegenwärtiger westlicher Gesellschaften, die um Werte der Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde kreisen, die in vielen Verfassungen festgeschrieben sind. Die wichtige Frage danach, unter welchen Umständen das modernitätsaffine Potential antiker Semantiken angeeignet wurde oder eben nicht, kann ich indes nur anreißen. Man müsste dann Begriffe wie »Pfadabhängigkeit« diskutieren, den ich nicht verwende, da er zu einem deterministischen Missverständnis verführen kann.9

      Mit diesem Ansatz versuche ich etwas, was sich für einen Historiker meines Schlages, der von einer historistischen Grundeinstellung getragen ist, an der Grenze des Seriösen bewegt, indem ich auf die Wirkungsgeschichte abstelle, und damit das antike Christentum anachronistisch betrachte, da ich zudem zeitlich weit Entferntes vergleiche und die Entwicklungsschritte hintanstelle.10 Die Gefahr einer teleologischen Perspektive ist bei aller Vorsicht groß. Dass ich zudem auf dem knappen Raum nicht ohne Zuspitzungen und Einseitigkeiten auskomme, versteht sich. Es geht hier vornehmlich um einen Diskussionsbeitrag, nicht um eine ausgewogene Gesamtdarstellung.

       3. Konkretisierungen

       3.1 Exklusive religiöse Entscheidungen

      Der wichtigste Ausgangspunkt all der Entwicklungen scheint die Individualisierung religiöser Entscheidung zu sein, wie es jüngst wieder eindringlich hervorgehoben worden ist.11 Matthäus lässt Jesus eine provozierende Äußerung machen. Als er einen Mann zum Jünger beruft, erklärt dieser, er müsse zunächst seinen Vater begraben, und Jesus antwortet: »Folge mir nach und lass die Toten ihre Toten begraben!«12 Wenngleich die jüngere neutestamentliche Forschung einiges dafür getan hat, den jüdischen Hintergrund jener Worte zu erhellen, verdichtet sich in diesem Satz das Potential der christlichen Lehre, Zeitgenossen zu irritieren. Aufgrund einer persönlichen religiösen Entscheidung sollten alle anderen sozialen Verpflichtungen hintangestellt werden, sogar eine der höchsten familiären und religiösen Aufgaben jener Zeit überhaupt, die Bestattung des eigenen Vaters. Die Entscheidung für das Eine, für die Nachfolge Jesu, war untrennbar mit der Entscheidung gegen das Andere verbunden.

      Da dies eben sowohl eine Entscheidung für etwas als auch gegen etwas war, erhielt die Hinwendung zu einer bestimmten religiösen Auffassung oder Praxis eine ganz andere Bedeutung, als man sie sonst kannte.13 Denn in die Kulte der Familie, von Polis und res publica wurde man hineingeboren: Wer einer Athener Familie entstammte, pflegte selbstverständlich die Kulte der Polis Athen, die er im Laufe seiner Sozialisation kennenlernte; er führte ebenso selbstverständlich familiäre kultische Traditionen fort. Die Teilnahme daran war ein Privileg und zugleich eine Pflicht des Bürgers und der Bürgerin, deren Status oft erst im Kult performiert wurde. Das schloss nicht aus, dass dauerhafte Bewohner der Stadt wie die Athener Metöken, ja selbst Sklaven an den Kulten beteiligt waren. Aber die religiöse Praxis erwuchs auch hier nicht aus einer individuellen Entscheidung, sondern aus sozialer Zugehörigkeit.

      Viele Priesterämter wurden auf die gleiche Weise wie andere Funktionen in der Polis vergeben, obgleich bisweilen Erblichkeit und andere Modi der Personalauswahl vorkamen. In der römischen Gesellschaft gehörten die wichtigsten Priesterwürden zur senatorischen Karriere und die Stratifikation der Priesterschaften entsprach gerade in Rom der sonstigen gesellschaftlichen Hierarchie. Kein Consul, der nicht mindestens ein hohes Priesteramt bekleidete – ohne dass dafür eine besondere religiöse Anteilnahme gefordert wurde. Der Kaiser agierte seit 12 v. Chr. zugleich als pontifex maximus. Religiöses und politisches System waren unlösbar verbunden.

      Individuelle religiöse Entscheidungen besaßen gleichwohl große Bedeutung. Angebote gab es reichlich. Neben den Göttern von Polis und res publica mochte man noch andere, selbst fremde Götter verehren, von deren Wirken man erfahren hatte. Viele

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