Christentum und Europa. Группа авторов

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Christentum und Europa - Группа авторов Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)

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inzwischen verstorbenen Eltern2 waren gebürtige Wiener, die aus rassistischen bzw. antisemitischen Gründen aus ihrer Heimatstadt vertrieben wurden. Dennoch gelang es ihnen, in der Neuen Welt ein neues Leben aufzubauen. Allerdings, auch wenn man Menschen aus Europa vertreiben kann, bleiben sie in der europäischen Kultur im weitesten Sinne verwurzelt. So kam es, dass meine erste Sprache genau genommen das zu Hause gelernte Deutsch war und dass ich – wie mein Schwager es spöttisch nennt – in Wien am Connecticut River3 aufgewachsen bin, einem Fluss, den, wenn ich mich richtig daran erinnere, Heinrich Heine beschrieben hat, auch wenn er ihn nie zu Gesicht bekam. So spiegelt meine Herkunft die einseitige jüdische Liebesbeziehung zur europäischen Kultur – zur Kunst, Literatur und Musik –, aber leider nicht das Leben innerhalb der europäischen Kultur wider.

      Im Laufe meines Lebens habe ich die deutsche Sprache mehrmals verlernt, nur um sie mir immer wieder neu anzueignen dank meiner vielen Aufenthalte im deutschsprachigen Raum. Und wäre ich nicht leidenschaftlicher Baseballfan und seit einem halben Jahrhundert verrückter Anhänger der Boston Red Sox, würde mich als gebürtigen Amerikaner kulturell kaum etwas von einem gebürtigen Europäer unterscheiden. Es könnte freilich sein, dass ich mich gerade deshalb als Außenseiter in der heutigen europäischen Gesellschaft erweise, weil ich versuche, in der Kultur europäischer als die Europäer zu sein.

      Abb. 1a. Der Schülerausweis des Leonhard (später Leonard H.) Ehrlich. Er besuchte das jüdische Chajes-Realgymnasium in Wien.

      Aber lassen wir die Frage der kulturellen Zugehörigkeit als unbeantwortbar beiseite! Nicht zu übersehen ist, dass ich als Jude »In diesen heil’gen Hallen« – wenn ich eine der großen Arien Sarastros aus dem zweiten Akt von Mozarts Zauberflöte zitieren darf – ganz folgerichtig eine Außenseiterperspektive einnehme. Allerdings stehe ich damit wohl nicht allein. Jedenfalls kann ich als Jude sehr gut das Lebensgefühl von vielen von Ihnen nachvollziehen, die als kleine evangelische Minderheit im überwiegend katholischen Österreich leben. Aber wir leben zugleich auch in einem Zeitalter der Ökumene, das die früheren innerchristlichen Religionskriege durch friedliche theologische Debatten abgelöst hat, eine begrüßenswerte Entwicklung, die sich in der modernen Welt auch auf die Beziehungen zu den Schwesterreligionen des Judentums und des Islams positiv auswirkt, und dies nicht nur in der europäischen Gesellschaft. Zwar sind sowohl der Dreißigjährige Krieg als auch die Schoah Vergangenheit, aber ihre Auswirkungen dauern weiterhin an.

      Abb. 1b. Der Reisepass der Edith Schwarz (verh. Ehrlich). Während der NS-Zeit mussten alle jüdischen Mädchen den Mittelnamen Sara annehmen, so wie alle Jungen den Mittelnamen Israel als Kennzeichen haben mussten.

      Nun komme ich endlich zu meinem vorgegebenen Thema: Ist die Bibel ein europäisches Buch? Die Frage scheint auf den ersten Blick einfach zu sein; aber sie ist vielschichtig und nicht leicht zu beantworten.

      Erstens, was ist mit »Bibel« gemeint? Als Jude würde ich die Frage anders beantworten, als es evangelische Christinnen und Christen tun würden. Katholiken und Katholikinnen würden wiederum eine andere Antwort geben, nicht zu reden von den verschiedenen christlich-orthodoxen Konfessionen. Von welcher Bibel soll hier die Rede sein? Von meiner oder ihrer? Soll es um die Hebräische Bibel bzw. den Tanach gehen oder um eine Zusammenstellung von Altem Testament und Neuem Testament, oder gar um eine Bibel, die aus dem Alten Testament, dem Neuen Testament und den Apokryphen besteht?

      Und zweitens, was ist Europa? Ist Europa ein Kontinent? Eine Kultur? Oder ein kulturgeschichtlicher und religiöser Bereich? Wie sollen wir Europa verstehen? Als einen geographischen Raum, als eine Idee oder als eine geschichtliche Größe?

      Beginnen wir mit der Bibel bzw. dem Tanach. Für mich als Jude besteht sie aus vierundzwanzig Büchern, die in drei Teile unterteilt sind, nämlich in Tora, Newi’im und Ketuwim oder Pentateuch, Propheten und Schriften. Darunter ist der erste Teil der theologisch weitaus wichtigste, da die Tora mit ihren sechshundertdreizehn Geboten als Quelle für das jüdische Leben und seine Praxis dient. Es ist auch die Tora, die auf Schriftrollen in der Synagoge zu finden ist und deren Lesung im Wochentakt im Mittelpunkt des synagogalen Gottesdienstes steht.4

      Die Stellung des sogenannten Alten Testaments im Christentum ist eine andere.5 Erstens wird die Sammlung der Bücher, die die jüdische Gemeinde als vierundzwanzig zählt, in der evangelischen Kirche als neununddreißig gerechnet.

      Zweitens befinden sich die Bücher des Alten Testaments zum Teil in einer anderen Reihenfolge als im Tanach.6 Beide Traditionen beginnen mit der Tora bzw. dem Pentateuch, aber danach weichen sie in der Reihenfolge voneinander ab. Der Tanach gibt mehr oder weniger den Vorgang der Kanonisierung wieder. Das Alte Testament wiederum folgt der Anordnung nach Gattungen in der Septuaginta, der antiken jüdischen Übersetzung des Tanachs ins Griechische, die von der griechisch sprechenden frühchristlichen Kirche als Heilige Schrift übernommen wurde. Dort bilden nach dem einleitenden Pentateuch die Geschichtsbücher den zweiten Teil des Alten Testaments, die Weisheitsbücher den dritten und die Propheten den vierten. Nicht zufällig kommt diese Reihenfolge der christlichen Theologie entgegen – wir könnten in diesem Fall sogar von Teleologie sprechen. Denn diese Reihenfolge der Bücher lässt eine christologische Interpretation zu, nach der die historischen Bücher auf die Vergangenheit, die Weisheitsbücher auf die Gegenwart und die Propheten auf die Zukunft bzw. auf die Offenbarung des Neuen Testaments bezogen sind. Wenn man bedenkt, dass das Christentum unter den sechshundertdreizehn Geboten, die das Judentum im Pentateuch zählt, vor allem die sogenannten Zehn Gebote hervorhebt,7 könnte man sagen, dass das theologische Gefälle in den beiden religiösen Traditionen geradezu gegenläufig ist: Das Judentum betont die vorderen Bücher, das Christentum den Schluss.

      Hinzu kommt die Tatsache, dass die katholische wie auch die verschiedenen orthodoxen Kirchen ihr Altes Testament um unterschiedliche apokryphe Texte erweitern. Dies alles deutet darauf hin, dass das Buch, von dem man annehmen sollte, dass es uns untereinander verbindet, uns tatsächlich voneinander trennt, da wir es unterschiedlich verstehen und es auf unterschiedliche Weise in unseren Theologien auf- und wahrnehmen.8

      Diese Behauptung wird dadurch unterstrichen, dass im Christentum – im Gegensatz zum Judentum – der Begriff »Bibel« ohne das Neue Testament unvorstellbar ist. Die drei abrahamitischen Schriftreligionen gründen mehr oder weniger auf den Traditionen der hebräischen Bibel. Aber alle drei haben ihre biblischen Grundlagen geändert und weiterentwickelt. Und alle drei haben Wege gefunden, diese Weiterentwicklung zu rechtfertigen. Das rabbinische Judentum, aus dem das moderne Judentum erwachsen ist, hat seine Neudeutungen, die im Talmud zu finden sind, der Heiligen Schrift des Tanachs gleichgesetzt, indem die Rabbinen behauptet haben, dass Mose am Berg Sinai zugleich mit der schriftlichen eine mündliche Offenbarung erhalten habe. Auf diese Weise haben sie ihre Fortschreibung – und Veränderung – der schriftlichen Tradition dem Tanach gleichgesetzt.9

      Das Christentum hat das Problem einer späteren Offenbarung dadurch gelöst, dass es dem Neuen Testament als der Erneuerung des Bundes zwischen Gott und den Menschen den Vorrang vor dem Alten Testament gegeben hat. So verstanden ist das Alte Testament ein Vorspiel zu der zweiten und wichtigsten Offenbarung im Neuen. Dies löste eine gewisse Spannung in der christlichen Theologie aus, die bis auf den heutigen Tag noch nicht zufriedenstellend gelöst wurde, nämlich die Frage nach der Stellung des Alten gegenüber dem Neuen Testament. Da die Rede vom »Alten« gegenüber dem »Neuen« von manchen als für die Anhänger des sogenannten Alten beleidigend empfunden wird, haben einige christliche Theologinnen und Theologen vorgeschlagen, dass man das Alte Testament in »Erstes Testament« umbenennen soll. Ich muss aber zugeben, dass ich diese sprachliche Änderung aus verschiedenen Gründen als unbefriedigend betrachte. Wenn ich jetzt eine persönliche Beobachtung machen darf: Als einer, der in seiner frühen Jugend die Sünde einer ersten bzw. Anfängerehe beging, verbinde

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