Digital lehren. Thomas Hanstein
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• Forderung 7: Die „Schule von morgen“ braucht hybride Konzepte! Der Erfolg der Schulen und Hochschulen in den nächsten Jahren wird an ihren pädagogischen Konzepten und nicht – wie heute vielfach angenommen – am technischen Know-how gemessen werden. Denn ein schlechter analoger Unterricht wird auch durch das beste technische Know-how nicht besser – was sich auf Lehrkräfte übertragen lässt. Die Autoren liefern hier einen originellen Ansatz, indem sie das auf virtuell-hybride Brauchbarkeit untersuchen, was sich im Präsenzunterricht methodisch-didaktisch bewährt hat. So wird auch verhaltenen Lehrkräften die Angst vor der Digitalität genommen.
Dazu ist aber vor allem eine umfangreiche Medienkompetenz aller Lehrkräfte nötig, die über die „Medienbedienkompetenz“ unserer Schüler und Studenten hinausgeht und das von Björn Brembs propagierte „digitale Steinzeitalter“ hinter sich lässt.
In diese Lücke passt sich das Buch von Thomas Hanstein und Andreas Lanig stimmig ein. Zwar kann die hier durch viele wertvolle Praxistipps unterstützte virtuelle Präsenzlehre nicht das Ziel zukünftiger Lehr- und Lernformate sein. Doch wenn sie benötigt wird – und das wird sie, solange insbesondere die Forderungen 1, 3 und 4 nicht flächendeckend umgesetzt sind und wir mit Beeinträchtigungen der Präsenzlehre zu kämpfen haben –, stehen durch die Autoren zahlreiche methodisch-didaktische Hilfestellungen für das Gelingen dieser Formate des Übergangs bereit, die in Zukunft immer mehr zu gangbaren hybriden Alternativen werden können. Denn virtuelle Präsenzphasen und die im Buch dargelegten Unterstützungsmethoden werden in jedem Fall fester Bestandteil moderner Lehr- und Lernszenarien sein. In meiner eigenen Lehre sind sie es schon lange und ich bin besonders für die „64 Online-Methoden“ sehr dankbar!
Ich wünsche dem Buch eine hohe Akzeptanz und eine experimentierfreudige Leserschaft.
Marburg, im Juli 2020
Prof. Dr. Jürgen Handke
Uni Marburg & 3M-Solutions
RoboPraX – Robotikum
Einleitung: Eine Krise in der digitalen Steinzeit wirft Fragen auf
„Wir erleben das Ende der Universität, wie wir sie kannten“, titelte die „Welt“ im Mai 2020 (https://www.welt.de/debatte/kommentare/article208219581/Hochschulen-Wir-erleben-das-Ende-der-Universitaet-wie-wir-sie-kannten.html; Zugriff: 01.06.2020). Zu dieser Zeit war der (erste) Shutdown bereits beendet. Viele Schulen hatten die Versorgung der Prüfungsklassen bereits hinter sich und planten das Prinzip „flipped classrooms“ für die Zeit nach Pfingsten. Wie das neue Schuljahr aussehen würde, wusste da noch niemand. Nur, dass es anders sein würde. Bereits vor über vier Jahrzehnten schrieb der Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn: „Krisen sind eine notwendige Voraussetzung für das Auftauchen neuer Theorien“ (Kuhn, 1976, S. 91) – und wir ergänzen – sowie Praktiken!
Die Digitalisierung der Bildungssysteme hat im Jahr 2020 einen krisenhaft ausgelösten Schritt getan. Gleichzeitig sind die paradigmatischen Linien bereits seit Jahrzehnten erkennbar. Der Corona-Impuls stammt aus einer externen Ebene, die mit der eigentlichen mediendidaktischen Diskussion um das E-Learning nicht direkt in Verbindung steht. Es wurde lediglich deutlich, dass die Digitalisierung bei der Überwindung der Raum- und Zeitschranke behilflich ist. Doch dieser Gedanke ist nicht neu, er ist bereits seit fast drei Jahrzehnten in der Diskussion.
Das Novum in dieser Krise bestand darin, dass der elementare Vorteil über die fehlenden Potenziale der digitalen Bildung nicht mehr argumentierbar war. Gleichzeitig haben auch 2020 „Medien per se keine didaktischen Potenziale“ (Euler, 2004, S. 225). Dies festzuhalten scheint uns auch nach Jahrzehnten der pädagogischen Diskurse wichtig. Insofern ist aktuell nach dem methodisch-didaktischen Kern in der digitalisierten Bildung zu fragen.
Wer „wir“ sind
Dieses Buch schreiben wir aus der Perspektive von Lehrern, die viele Jahre – haupt- und nebenberuflich, in der eigenen Lehre sowie im Aufbau hybrider Formate und in der Begleitung virtuell Lehrender – Erfahrungen in der virtuellen Hochschullehre und im virtuellen Coaching sammeln durften. Ausgehend von dieser Arbeit stellen wir zeitgeistige Phänomene bei Schülern und Studierenden fest. Unsere Motivation ist es, die Vorerfahrung an virtueller Lehre einer in diesem Bereich deutschlandweit führenden Fernhochschule – der staatlich anerkannten DIPLOMA – für den schulischen Bereich in der gegenwärtigen Situation als Basis anzubieten. Damit haben wir Ausgangspunkte für eine tiefer gehende methodisch-didaktische Betrachtung.
In diesem Sinne startet die Diskussion um die Digitalisierung der Bildung an einem Punkt in der Vergangenheit, an der die Zeit- und Raumschranke ein stichhaltiges Argument war. Um das Jahr 2010 herum wurde nämlich deutlich, dass eine im Wesen andersartige Lehr- und Lernkultur möglich werden kann. Zu dieser Zeit transformierten sich Fernhochschulen, die bislang über den postalischen Versand von Lehrmaterialien arbeiteten, zu virtuellen Hochschulen. Dieser Prozess ist für uns wichtig, da die geforderte personale und soziale Kompetenzentwicklung neue didaktische Formate erforderte, und damit wiederum eine virtuell adäquate methodische Kompetenz. Im Zentrum der Entwicklung neuer Formate stand der digital vermittelte Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden.
Im Diskurs sind daher zwei Punkte besonders interessant. Erneut bewahrheitet sich eine ganz naheliegende These: Lernvorgänge sind nicht zwingend an die Gleichzeitigkeit einer schulischen Institution gebunden. Soweit scheint dies trivial. Doch der zweite Punkt ist diskursanalytisch interessanter: Im Frühjahr 2020 ist eine „Anomalie“ aufgetreten, die eine Reaktion in der Diskursbildung herausfordert (vgl. Kuhn, 1976, S. 90–94). Diese Anomalie bestand darin, dass die Präsenz- und Kontrollkultur bildungstheoretisch, vor allem aber empirisch in Frage gestellt wurde. Dieses Phänomen unterlag einem nicht planbaren, relativ schnellen Prozess, der so in wesentlichen Aspekten weder steuerbar war noch bis dato hinreichend reflektiert worden ist.
Diese Anomalie war ferner dadurch gekennzeichnet, dass die Narration des traditionellen Präsenzunterrichts in eine kaum mehr zu restaurierende Debatte gestellt wurde. Die kollektiven, aus der industriellen Gesellschaft stammenden Ideen der Bildungssysteme rieben sich – und reiben sich seither – mit den individuellen Potenzialen digitaler Schul- und Hochschulbildung. – Anmerkung: An dieser Stelle soll und darf nicht unter den Tisch fallen, dass diese individualisierten Potenziale auf dem Rücken der Millionen von Eltern und vorwiegend Müttern ausgetragen wurden, die das Konzept „Homeschooling“ nolens volens zu verwirklichen hatten.
Was die Ambivalenz des Neuartigen in sich trägt
Insofern stehen wir seit Frühjahr 2020 an einem historischen Ereignis, das eine Ambivalenz des Neuartigen in sich trägt. An vergleichbaren Punkten der Menschheitsgeschichte wie auch der individuellen Entwicklung eröffnet sich die Option einer „revolutionären Anpassung“ (Peterson, 2009, S. 62). Das Adjektiv „revolutionär“ soll hier nicht als bildungspolitischer „Kampfbegriff“ missverstanden werden. Diese Bezeichnung fußt auf der Beobachtung, dass die Kompetenzerfahrung der nun zur digitalen Vermittlung gezwungenen Kollegien an einem Punkt der E-Learning-Debatte anschließt, die bereits 1990 mit der intendierten Überwindung von Raum und Zeit durch digitale Bildungsmedien startete. Dieser Hinweis lässt die angedeutete Ambivalenz bereits zeitlich sehr konkret werden: Wir müssen also von einer zeitlichen Verschiebung – um nicht zu sagen Verzögerung – von mindestens 30 Jahren ausgehen! Was eine