Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe). Jean Jacques Rousseau
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Ich war anfänglich sehr überrascht von dem Gegensatze, welchen diese Gewohnheiten mit denen im Nieder-Wallis bilden, wo, auf dem Wege nach Italien, der Reisende täglich geschröpft wird; und ich konnte mir nicht recht erklären, wie doch ein und dasselbe Volk zu so verschiedenartigen Sitten käme. Ein Walliser erklärte mir die Ursache. Unten im Thale, sagte er mir, sind die Fremden, welche durchreisen, Kaufleute und andere Solche, die nichts weiter im Auge haben als ihr Geschäft und ihren Gewinn. Es ist billig, daß sie uns einen Theil von ihrem Nutzen lassen, und wir behandeln sie, wie sie die Anderen behandeln. Aber hier, wohin keine Geschäfte die Fremden locken, können wir gewiß sein, daß nicht Eigennutz sie heraufführt; so nehmen wir sie auch uneigennützig auf. Es sind Gäste, die uns besuchen, weil sie uns gut sind, und wir begegnen ihnen mit Freundschaft.
Uebrigens, setzte er lächelnd hinzu, ist diese Gastfreundschaft nicht kostspielig; es fällt wenig Leuten ein, Gebrauch davon zu machen. Oh, ich glaube es, antwortete ich ihm. Was sollte man bei einem Volke, welches lebt, um zu leben, nicht um zu erwerben oder um zu glänzen? Ihr Glücklichen, und werth, es zu sein, ich glaube gern, daß man euch in irgend einer Sache gleichen muß, um in eure Mitte zu kommen.
Was mir an ihrer Bewirthung am meisten gefiel, war, daß dadurch nicht die geringste Spur von Verlegenheit und Zwang weder auf der einen noch der andern Seite herbeigeführt wurde. Sie lebten in ihrem Hause, als ob ich nicht da gewesen wäre, und es kam nur auf mich an, es so darin zu haben, als ob ich allein da wäre. Sie wissen nichts von der unbequemen Eitelkeit, den Fremden die Honneurs zu machen, als ob man ihnen die Gegenwart eines Gebieters fühlbar machen wollte, von welchem man wenigstens hierin abhängt. Wenn ich nichts sagte, nahmen sie an, daß ich mit nach ihrer Art leben wollte; ich brauchte nur ein Wort zu sagen, um nach meiner eigenen leben zu können, ohne je von ihrer Seite die geringste Spur von Widerstand oder Erstaunen zu erfahren. Das einzige Compliment, das sie mir machten, als sie hörten, daß ich Schweizer wäre, bestand darin, daß sie mir sagten, wir wären Brüder und ich sollte mich bei ihnen wie zu Hause betrachten. Dann kümmerten sie sich weiter nicht um das, was ich that; denn es fiel ihnen gar nicht ein, daß ich in die Aufrichtigkeit ihrer Anerbietungen der geringsten Zweifel setzen oder daß ich das mindeste Bedenken haben könnte, Gebrauch davon zu machen. Mit derselben Einfachheit benehmen sie sich unter einander selbst; die Kinder, welche in das Alter der Vernunft getreten sind, stehen ihren Vätern gleich; die Knechte setzen sich mit ihrer Herrschaft zu Tische, die nämliche Freiheit herrscht in der Gemeinde wie in den Häusern und die Familie ist das Bild des Staates.
Das Einzige, worin ich nicht meiner Freiheit genoß, war die ungemeine Länge der Mahlzeiten. Ich brauchte mich freilich nicht mit zu Tische zu setzen; saß ich aber einmal, so mußte ich schon einen Theil des Tages aushalten und auch danach trinken. Wie sollte man denken, daß ein Mann und ein Schweizer kein Freund vom Trinken wäre? In der That, ich gestehe, daß mir ein guter Wein eine herrliche Sache scheint, und daß ich mich gar nicht ungern durch ihn erheitere, nur muß ich nicht dazu gezwungen werden. Ich habe immer bemerkt, daß die falschen Menschen mäßig sind, und große Zurückhaltung bei Tische verräth ziemlich häufig einen verstellten Charakter und Doppelherzigkeit. Ein offener Mann hat weniger Scheu vor der überfließenden Redseligkeit, den traulichen Ergießungen, welche der Betrunkenheit vorangehen; man muß aber auch einzuhalten und das Uebermaß zu vermeiden wissen. Das war mir aber nicht möglich mit so ausgemachten Trinkern, wie die Walliser sind, bei so starken Weinen, wie sie das Land erzeugt, und an Tischen, wo sich nie ein Tropfen Wasser blicken läßt. Wie hätte man es über sich gewinnen sollen, auf so dumme Art den Weisen zu spielen und solche gute Leute böse zu machen? Ich betrank mich also aus Dankbarkeit, und da ich meine Zeche nicht mit meinem Beutel bezahlen durfte, bezahlte ich sie mit meiner Vernunft.
Ein anderer Brauch, der mich nicht weniger peinigte, war, daß ich überall, selbst bei Magistratspersonen, die Frau und die Töchter vom Hause hinter meinem Stuhle stehend wie Lakaien den Tisch bedienen sah. Eine französische Galanterie würde sich um so mehr gequält haben, diese Unangemessenheit wett zu machen, als mit dem Gesichtchen der Walliserinnen selbst Mägde durch ihre Dienste in Verlegenheit setzen würden. Sie können es mir wohl glauben, daß sie hübsch sind, da sie sogar mir hübsch schienen. Augen, die gewohnt sind, Julie zu sehen, machen Ansprüche im Punkte der Schönheit.
Ich für mein Theil, der ich immer die Bräuche des Landes, in welchem ich lebe, höher achte, als die der Galanterie, lasse mich stillschweigend von ihnen bedienen, so gravitätisch wie sich Don Quixote von der Herzogin bedienen ließ. Ich betrachtete oft mit Lächeln den Abstich zwischen den großen Bärten und den groben Gesichtern der Tischgenossen und der glänzenden und zarten Farbe dieser jungen schüchternen Schönen, die ein Wort schamroth und nur desto anmuthiger machte. Aber ich nahm einigen Anstoß an dem Ungeheuern Umfang ihrer Brust, die nur einen der Vorzüge in ihrer blendenden Weiße von dem Modell hat, an welchem ich sie zu messen wagte, dem einzigen, obwohl verhüllten Modell, dessen verstohlen abgelauschte Umrisse mir ein Bild von jener berühmten Schale geben, welcher der schönste Busen der Welt zum Muster gedient hatte [Der Busen der Helena. Minerva temlum habet … in quo Helena sacravit calicem ex electro; adjicit historia, mammae suae mensura. („In dem Minerventempel ist eine Bernsteinschale, Weihgeschenk der Helena, und wie die Sage hinzufügt, nach dem Maße ihres Busens geformt“).Plin. Hist. Nat. lib. XXXIII, caq. 23.].
Staunen Sie nicht, mich so genau von Mysterien unterrichtet zu finden, welche Sie so gut verbergen: ich bin es ohne Ihren Willen; der eine Sinn giebt wohl bisweilen dem andern Aufschluß: bei aller eifersüchtigen Wachsamkeit entschlüpfen der Kleidung, schließe sie noch so gut, doch hin und wieder kleine Zwischenräume, bei denen das Gesicht den Dienst des Tastsinns übernimmt. Das lüsterne und kühne Auge stiehlt sich ungestraft unter die Blumen eines Straußes; es lauscht unter Chenille und Gaze und verschafft der Hand die Empfindungen des elastischen Widerstandes, den sie selbst nicht zu erproben wagt.
Parte appar delle mamme acerbe c crude: Parte altrui ne ricopre invida vesta, Invida, ma s' agli occhi il varco chiude L' amoroso pensier già non arresta.
[Ein Theil blickt vor der herben jungen Brüste, Das andr' entzieht neidisch Gewand dem Blicke. Neidisch, doch hält's, wenn auch der Augen Lüste, Den lüsternen Gedanken nicht zurücke.
Tasso.]
Ich bemerkte auch einen großen Fehler an der Kleidung der Walliserinnen, nämlich sie haben an ihren Röcken so hohe Rückentheile, daß