Deutsche Geschichte. Ricarda Huch
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Wenn der Abfall der großen Vasallen auch so häufige Erscheinung war, dass man sagen kann, die Geschichte der meisten Könige spielte sich am Rande eines Abgrundes ab, so wäre es doch gewagt, daraus zu folgern, die Treue sei bei den Deutschen wegen ihrer Seltenheit so hoch geschätzt worden. Bei den Reichen und Mächtigen wird man im Allgemeinen diejenigen Eigenschaften suchen müssen, die im Kampf ums Dasein Vorteil schaffen, vorwärtsbringen, nicht die edleren, die den Nutzen der Ehre nachstellen. Nicht auf den Höhen, sondern in den unteren und mittleren Schichten sind diejenigen Tugenden heimisch, die den Bau der Gesellschaft zusammenhalten. Die Treue und das Pflichtgefühl unzähliger, deren Namen niemand überliefert, erhält die Ordnung, die auf der Geltung des Rechtes und der Heiligkeit des gegebenen Wortes beruht, wenn Machtgier und Habgier einiger Großer die Welt in ein Chaos zu stürzen drohen. Da, wo sich eine Macht gebildet hat, die die Grenze privater Sphären überschreitet, verlieren die privaten Tugenden ihre Geltung; in der Politik setzt sich auch der redliche Mensch über die Gebote der Redlichkeit hinweg, und es müsste ein solches Sichhinwegsetzen über das Recht zu gänzlicher Auflösung führen, wenn nicht Gegenwirkungen vorhanden wären oder sich bildeten. So braucht man denn aus dem Verhalten des hohen Adels gegen die Könige nicht auf Treulosigkeit des deutschen Adels überhaupt zu schließen. Wohl waren aus den Gefolgsleuten des Königs durch die Landverleihung Fürsten und Nebenbuhler des Königs geworden; aber es fehlte doch nie an einem echten Gefolge, das sich für seinen Herren in Stücke hauen ließ. Bedenkt man, wie wenig Mittel vorhanden waren, um das Recht zu stützen, muss man es erstaunlich finden, wie das Recht geachtet wurde. Ein Volk, das fast durchweg bewaffnet und in den Waffen geübt war, in dem jeder Freie dem anderen Fehde ansagen konnte, beugte sich freiwillig vor alten Pergamenten, auf denen alte Privilegien verzeichnet waren, wagte selbst abhängigen Bauern die Abgaben nicht über das Herkömmliche zu steigern, wenn auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen andere geworden waren. Das Heilighalten des Rechtes hängt zusammen mit der Ehrfurcht vor den Göttern; diese beseelte den Deutschen, wenn er auch die christlichen Gebote häufig verletzte. Nicht nur, dass er die äußerlichen Formen des religiösen Lebens mitmachte, die Kirche besuchte, die Messe hörte, die Knie vor dem Allerheiligsten beugte; Weltliche wie Geistliche fühlten sich eingebürgert in dem wunderbaren Reich, das die Erde, den Stern der Mitte, umrundete, in dem das Sichtbare und das Unsichtbare eingegossen war. Das Drüben, wo alle Tränen versiegten, war nichts Fernes, nicht ein entlegener Ort, sondern es war da, wo man stand, ein Meer des Glanzes, das aufblinken konnte, wo immer ein Gläubiger den trügenden Schein der Welt überwand. Kam die Stunde des Todes, so löschte die sterbende Hand das letzte Fünkchen Welt aus, und der Tote tauchte in den Goldgrund der Dinge. Die Verbundenheit mit dem Jenseits bewog so viele Adlige, die diesseitige Welt, nachdem sie ihre Freuden erprobt hatten, plötzlich mit einer heroischen Gebärde von sich zu stoßen, zuweilen jung, vor der Hochzeit, trotz des Flehens der Eltern, zuweilen auf der Höhe des Ansehens und der Erfolge. Gero, der berühmte Markgraf Ottos des Großen, der einen Teil des slawischen Landes zwischen Elbe und Oder eroberte, von dem das Volkslied sang, dass er dreißig slawische Große ermordet habe, endete sein Leben im Kloster. Der Tod seines letzten Sohnes, in dem er auf Erden weiterzuleben gehofft hatte, erschütterte das Herz, das in zahllosen Schlachten nie unruhiger geschlagen hatte. Schon sein Vater hatte geplant, ein Nonnenkloster in der Nähe einer seiner Burgen zu stiften; das führte er nun aus, um die Zukunft der jungen Witwe seines Sohnes zu sichern, die er, wie es scheint, zärtlich liebte. Sie hat 55 Jahre lang der Abtei Gernrode als Äbtissin vorgestanden. Dann ging er, nicht zum ersten Male, nach Rom und legte das zur Bekehrung der Heiden geführte Schwert zu Füßen des Papstes nieder; schon nach anderthalb Jahren starb er. Für den Kriegsmann wie für den Geistlichen war der Übergang von der Erde zum Himmel weniger als ein Schritt, nur ein Schließen der Augen: die irdischen Lichter erlöschen, über der Seele gehen die göttlichen Geheimnisse auf.
Herzog Bernhard zur Lippe, ein treuer Anhänger Heinrichs des Löwen, wurde aus einem gefürchteten Kriegsmann, der vor Beraubung von Klöstern nicht zurückgeschreckt war, ein Kreuzzugsprediger und schließlich ein Bischof. Als Vater von fünf Söhnen und sechs Töchtern trat er in ein Kloster ein nach Überwindung