Joachim Löw und sein Traum vom perfekten Spiel. Christoph Bausenwein

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Joachim Löw und sein Traum vom perfekten Spiel - Christoph Bausenwein

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Verzicht, weitab stehende Gegner zu decken, werden Mitspieler frei, den ballführenden Spieler in Überzahl zu attackieren – er kann »gedoppelt« oder sogar »getripelt« werden –, die Chance auf Ballgewinn wird dadurch erhöht; und weil man den Raum aktiv beherrscht und deswegen die bei der Manndeckung nach dem Ballbesitzwechsel nötige Phase der Neuorientierung entfällt, ist immer ein schnelles und geplantes Umschalten auf die Angriffspositionen gewährleistet.

      Deutsche Beobachter rieben sich in Genf ungläubig die Augen: Da stand der Assistenztrainer einer Fußball-Großmacht am Rande des Trainingsplatzes, um aus hochdotierten, aber taktisch rückständigen Bundesligastars versierte Viererketten-Versteher zu formen – und behauptete, dass man von der kleinen Schweiz fußballerisch einiges lernen könne! Das war ein geradezu ungeheuerlicher Vorgang. Aber er ist erklärbar. Die Ursache liegt in Löws sechsjähriger Trainerlehrzeit in der Schweiz.

      Erstmals mit dem »Schweizer System« konfrontiert wurde der spätere Bundestrainer beim FC Schaffhausen, zu dem er 1989 als Spieler gewechselt war. Der 1896 gegründete Klub zählt zu den ältesten Schweizer Fußballvereinen, wenngleich nicht zu den erfolgreichsten. Die meiste Zeit spielte der Verein nur zweitklassig, nämlich in der Staffel Ost der Nationalliga B. So war es auch, als sich der deutsche Fußballroutinier Joachim Löw den an Borussia Dortmund erinnernden gelb-schwarzen Dress überstreifte. Immerhin: Der Verein aus dem nur 20 Kilometer jenseits der deutschen-schweizerischen Grenze liegenden – und nur 80 Kilometer von Schönau entfernten – kleinen Städtchen am Oberrhein spielte in der 2. Liga oben mit. Nach Platz eins im Jahr 1992 scheiterte das Team, in dem Löw eine Hauptrolle übernommen hatte, erst in der Aufstiegsrunde. In einem fremden Land sei man mehr gefordert als in heimatlicher Umgebung, erinnert sich Löw an sein drei Jahre währendes Engagement in Schaffhausen. »Als Ausländer und Mannschaftskapitän haben die Leute besonders viel von mir erwartet.« Aber das habe auch sein Gutes gehabt. Er sei »vom Egoisten zum Mannschaftsspieler gereift«, er habe gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Sein Mannschaftskollege Joachim Engesser bestätigt diese Selbsteinschätzung. Der Kapitän sei sehr zielstrebig und ehrgeizig gewesen, dabei aber immer auch kollegial, ein perfekter Führungsspieler eben. Ein anderer Mitspieler, der Verteidiger Mirko Pavlicevic, meint gar: »Löw hat schon damals auf dem Platz wie ein Trainer gedacht und den jungen Spielern viel geholfen.«

      Wichtig für diesen späten Reifeprozess war nicht zuletzt der Trainer in Schaffhausen, Rolf Fringer. Der im schweizerischen Adliswil geborene Österreicher, ganze drei Jahre älter als Löw, sieht sich selbst rückblickend als Lehrmeister des späteren Bundestrainers. »Wenn man heute wie selbstverständlich in Deutschland Pressing und 4-4-2 spielt«, so seine Feststellung, »muss man sagen, dass diese Art des Fußballs Mitte der Neunziger Neuland war. Deutschland hatte zwar immer eine starke Nationalmannschaft, war aber hausbacken in punkto Kreativität und Taktik. Löw hat da Pionierarbeit mitgeleistet, und das geht klar auf unsere damalige Arbeit in der Schweiz zurück.« Der junge Trainer, erst seit Kurzem mit einem Diplom ausgestattet, war Vertreter einer neuen, innovativen Generation von Fußball-Lehrern. Der Titel seiner Abschlussarbeit – »Möglichkeiten des offensiven Zonenspiels« – hätte auch als Überschrift für sein Trainingsprogramm gepasst, das dem neusten Stand der fußballtaktischen Entwicklung entsprach. Fringer schätzte den »unbedingten Siegeswillen« seines deutschen Schülers und erkannte in ihm sofort »eine absolute Führungspersönlichkeit, auf und neben dem Platz«. Und bald wurde ihm klar, dass der Zweitligaspieler aus Deutschland nicht nur ein »Leader« war, der für das Kapitänsamt perfekt taugte, sondern dass er auch ein ausgeprägtes Verständnis für die Feinheiten des Mannschaftsspiels mitbrachte.

      Für den Lehrling Joachim Löw tat sich eine neue Welt auf. Bis dahin hatte ihm im geradezu hinterwäldlerischen Deutschland, in dem die übliche Traineransprache von Begriffen wie Manndeckung und Grätsche oder Rennen und Kämpfen dominiert war, noch keiner zeigen können, wie man das Spiel strategisch und taktisch durchdringt. Die typisch deutsche Trainermethode ging laut Löw etwa so: Der »Übungsleiter« nimmt eine Handvoll Kieselsteine vom Boden auf und wirft dann ein Steinchen nach dem anderen weg. Bis 50 Runden gelaufen sind. Eine typische Anweisung vor dem Spiel hatte die Form: »Jogi, du spielst heute im Sturm und guckst, dass du ein Tor machst.« Aufklärung über Systeme und Taktik? Fehlanzeige. Und wenn der Jogi dann kein Tor gemacht hatte, fiel manchem Trainer nur die Aufforderung ein, nun eben noch mehr zu kämpfen und sich den Arsch aufzureißen. Für den Empfänger der Botschaft war das aber unbefriedigend. »Oft hatte ich das Gefühl, durchaus schon alles aus mir herausgeholt zu haben«, berichtet Löw über seine Ratlosigkeit als Spieler, »also musste es doch ein anderes Problem geben.«

      Als Profi hatte Joachim Löw zum Teil unter durchaus namhaften Trainern gekickt, etwa Jürgen Sundermann, Lothar Buchmann, Werner Olk oder Jörg Berger. Immer hatte er sehr genau hingehört auf die Anweisungen und nachgefragt, wenn er etwas nicht genau nachvollziehen konnte. Richtig überzeugend aber fand er nur Jörg Berger. Und natürlich Rolf Fringer. »Fringer war ein Trainer, der mir Antworten auf meine Fragen geben konnte«, lobt Löw seinen Lehrmeister. Und der lobt zurück, dass er den Joachim nicht nur als einen Menschen mit untadeligem Charakter erlebt habe, immer offen, ehrlich und aufrichtig, sondern auch als Spieler »mit sehr viel Verstand«. Für seine spätere Trainerkarriere hätten ihm die Erfahrungen in der Schweiz sicher sehr geholfen. Da habe er seinen taktischen Horizont erweitern und lernen können, dass es auch andere Wege gibt als Hauruck-Fußball. »Er hat mich sehr oft befragt, wie bestimmte Dinge funktionieren. Das war eben alles Neuland für ihn. Da habe ich gemerkt, dass er sich schon als Spieler sehr viele Gedanken über solche Dinge macht.«

      Joachim Löw, der Trainer in spe, hatte in Fringer einen Lehrmeister, von dem er in taktischen Dingen viel lernen konnte. Etwa, wie die »Zonenverteidigung« (zu Deutsch: Raumdeckung) funktioniert, was Pressing ist und wie man ein geplantes Offensivspiel aufzieht. Sie hätten damals viel miteinander diskutiert, beim Training und danach, so Fringer. Und dabei habe der Jogi die Fähigkeit an den Tag gelegt, immer das Ganze im Auge zu behalten – so eben, wie das ein guter Trainer können muss. »Seine Art und Weise, das Spiel zu analysieren, die Art, seine Vorstellungen klar und deutlich zu vermitteln, und sein offensiv ausgerichtetes System, das hat mich schon geprägt«, bekennt er heute. Damals schätzte der Spieler Löw den Trainer Fringer aber nicht nur als Taktikexperten, der ein mutiges Offensivspiel propagierte, sondern auch als lebenslustigen und fröhlichen Typen, der sein Team stets bei guter Laune halten konnte.

      Die Schweiz entpuppte sich für den Badener Löw als eine ganz neue Fußballwelt. Er erkannte, »dass es nicht genügt, nur auf sich zu schauen, dass man an das Ganze denken muss«. Er erkannte, dass man über den Tellerrand hinausschauen muss. Und er erkannte, dass im Fußball viele Möglichkeiten stecken, die er im Fußball-Entwicklungsland Deutschland noch gar nicht wahrgenommen hatte.

      Als Fringer 1992 zum FC Aarau wechselte, um dort Meister zu werden, ging sein inzwischen bereits mit ersten Trainerscheinen ausgestatteter deutscher Schüler zum FC Winterthur. Löw hatte sich in Schaffhausen sehr wohlgefühlt, wo er regelmäßig im freundschaftlichen Kreis mit Fringer und einigen Mitspielern zum Mittagessen in der Altstadt-Wirtschaft »Kastanienbaum« eingekehrt war. Dennoch war nicht alles eitel Sonnenschein gewesen: Nach drei Jahren hatten sich Fringer und der Kreis seiner Führungsspieler mit dem Präsidenten Aniello Fontana verkracht, weil der sich in sportliche Angelegenheiten hatte einmischen wollen. »Die Episode, wie Fontana vor der Heimreise von einem Auswärtsspiel der Zutritt zum Mannschaftsbus verweigert wurde, ist in der Stadt legendär«, schrieb die »Aargauer Zeitung«.

      Winterthur – oder »Winti«, wie die Einheimischen den Ort im Kanton Zürich nennen – sollte die letzte Station seiner Karriere als Fußballspieler sein; daher war er bestrebt, als Coach der dortigen A-Jugend einen Neuanfang zu proben. Der Trainerjob reizte ihn, und so beschloss er, in der Schweiz alle nötigen Pflichtscheine zu erwerben. Im Ausbildungszentrum des Schweizer Fußballverbandes in Magglingen würde er so gute Lehrmeister finden wie kaum anderswo. Und die höchste Ausbildungsstufe,

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