Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Columbia University, New York, im Frühjahr 1964 | O.K. |
1 Dem Problem der Todesstrafe habe ich in diesem Buch keine ausdrückliche Behandlung gewidmet. Dem Leser, der sich für meine Meinung über die Vernichtung von Menschenleben im Zusammenhang mit dem Komplex »politische Justiz« interessiert, will ich sie gleichwohl nicht vorenthalten: 1. Das Recht, im Kampf um ein politisches System oder bei der Verteidigung eines politischen Systems Menschen zu töten, setzt voraus, dass man von den unermesslichen Vorzügen dieses Systems unerschütterlich überzeugt ist. 2. Wenn es auf unserem Planeten ein System gibt, das eine so enorme Macht verdiente, habe ich von seiner Existenz – das kann freilich eine Bildungslücke sein – noch nichts erfahren. Möglicherweise kämen solche Befugnisse einer Weltregierung deswegen zu, weil sie es nicht nötig hätte, von ihnen Gebrauch zu machen. (Auch das kann natürlich eine Illusion sein.) Solange es eine Weltordnung von dauerhaftem Bestand nicht gibt, könnte man sich als Träger solcher Befugnisse allenfalls einen umfassenden Mächtezusammenschluss vorstellen, dem zum mindesten die antagonistischen Machtblöcke der Gegenwart angehören müssten. 3. Nicht selten geben politische Systeme jedweder Observanz vor, dass sie Gegner nur aus Notwehr umgebracht haben oder werden umbringen müssen. Häufig ist diese Begründung offenkundig unwahr; aber je seriöser sie präsentiert wird, umso gründlicher entzieht sie sich der Nachprüfung.
Zur Quellenbenutzung
Das vorliegende Buch wendet sich an alle Leser, die an Problemen von Staat und Gesellschaft interessiert sind. Es vermeidet daher bei der Angabe der Quellen, vor allem der juristischen Belege, auf die es zurückgreift, die Verwendung hieroglyphenartiger Abkürzungen; statt dessen wird überall ein Klartext geboten, der nicht erst dechiffriert zu werden braucht.
Anfangsbuchstaben von Entscheidungssammlungen oder Zeitschriften werden nur an wenigen Stellen benutzt, wenn dieselbe Publikation mehrmals hintereinander zitiert wird; darauf wird zu Beginn einer solchen Serie jedes Mal besonders hingewiesen.
Gekürzt werden Titel, wenn sie bereits im selben Kapitel angeführt worden sind; dabei ist jeweils in Klammern die Ziffer der vorhergehenden Anmerkung angegeben, in der der ausführliche Titel zu finden ist. Wird dagegen ein in einem anderen Kapitel genannter Titel wiederholt, so wird weder gekürzt noch auf die frühere Stelle zurückverwiesen, sondern zur Vermeidung unnötiger Suche der volle Titel von neuem wiedergegeben.
Kapitel I
Die Justiz in der Politik
»Erstaunlich ist der meinungsbildende Einfluß, den die Menschen im allgemeinen dem Eingriff der Gerichte einräumen. Dieser Einfluß ist so groß, daß er der Form der Gerichtsbarkeit noch anhaftet, wenn die Substanz bereits dahin ist; er gibt dem Schatten einen Leib.«
Alexis de Tocqueville,
De la Démocratie en Amérique, I, 8
Jedes politische Regime hat seine Feinde oder produziert sie zu gegebener Zeit. Ausdrücklich soll hier von den Feinden eines Regimes, nicht von den Gegnern dieser oder jener Regierung die Rede sein. Verschieden ist bei »Regime« und »Regierung« die Größenordnung dessen, was sich verändert: Frankreichs Dritte Republik, die Ära Pétain, die Vierte und die Fünfte Republik zeigen verschiedene Regimes an; dagegen sind nur wechselnde Regierungen innerhalb eines Regimes gemeint, wenn aus der Zeit der Dritten Republik Tardieu oder Blum, aus der Pétain-Ära Darlan oder Laval, aus den Tagen der Vierten Republik Laniel oder Mendès-France genannt werden. Bisweilen verwischt sich der Unterschied: Wenn es keinem Zweifel unterliegt, dass die Reichskanzler Hermann Müller-Franken und Gustav Stresemann nur verschiedenen Regierungen unter demselben parlamentarischen Regime der Weimarer Republik ihren Namen gaben, so kommt man anderseits um die Feststellung nicht herum, dass Heinrich Brüning, formal ebenfalls ein Reichskanzler der Weimarer Republik, in Wirklichkeit bereits einem anderen Regime vorstand. Und erst die Zukunft wird darüber befinden, ob Bundeskanzler Konrad Adenauer der Chef einer von vielen Regierungen der Bundesrepublik war, oder ob seine Regierungszeit ein Regime besonderer Prägung verkörperte, von dem sich die Regimes seiner Nachfolger dem Wesen nach unterscheiden werden. Wenn es in dieser Hinsicht eine Unterscheidungsschwierigkeit gibt, so hat sie weniger mit der Terminologie als mit fließenden Übergängen der politischen Realität zu tun, und es wird trotz solchen Schwierigkeiten zweckmäßig sein, an der Unterscheidung von Regime und Regierung festzuhalten.1
Einem Regime, dessen Struktur oder dessen Vorkehrungen für den Elitenwechsel den Stempel der Herrscher-Weisen platonischer Abkunft trügen, könnte es vielleicht beschieden sein, die geistigen und materiellen Güter nach diesem oder jenem vorgefassten Plan zur allgemeinen Zufriedenheit zu verteilen. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Von fast jedem politischen Regime darf man annehmen, dass es ein Mischgebilde voller Widersprüche sei, aus Tradition, geschichtlichem Zufall und Augenblicksanpassungen an Zeitnöte hervorgegangen; alle Ansprüche und Forderungen, die an die bestehenden Gewalten herangetragen werden und von ihnen sanktioniert werden sollen, lösen infolgedessen in der Regel, welche Behandlung sie auch immer erfahren mögen, gegensätzliche Reaktionen aus. Die sich daraus ergebenden Kämpfe zwischen den jeweiligen Machthabern und ihren Feinden, ja überhaupt zwischen konkurrierenden Bewerbern um die politische Macht, können die mannigfaltigsten Formen annehmen, auch die des Rechtsstreits.
Von der Rolle der Gerichte
Die Anrufung der Gerichte ist gewiss nicht die markanteste Form der Austragung politischer Machtkämpfe, und sie wird auch nicht am häufigsten in Anspruch genommen. Zumeist vollziehen sich dramatische Veränderungen in der Zusammensetzung der Eliten, in der Rangordnung der Gesellschaftsklassen oder im Geltungsbereich politischer Ordnungssysteme unter Umgehung der Gerichte. Das gilt auch von den nicht minder dramatischen Akten der Wiederherstellung einer vorübergehend erschütterten alten Ordnung: Gerichte sind selten dabei, wenn ein Bauernaufstand niedergeschlagen oder wenn der Versuch einer den überlieferten Glaubenssystemen feindlichen Gesinnungsgemeinschaft, die weltliche Macht an sich zu reißen, im Keime erstickt wird. Haben die Gerichte bei einschneidenden Veränderungen überhaupt mitzusprechen, so beschränkt sich ihre eher gefügige Mitwirkung meistens darauf, dass sie Ergebnisse besiegeln, die ganz woanders zustande gebracht worden sind.
Nur selten sind die Gerichte an Entscheidungen beteiligt, die an der Spitze getroffen werden: Ihre regulären Aufgaben verweisen sie auf die mittleren Stufen in der politischen Kampfordnung. Vornehmlich fungieren sie in der Domäne der, wie es scheint, nie aufhörenden Vorstöße und Gegenstöße, mit denen Machtpositionen gefestigt werden, mit denen die Autorität des bestehenden Regimes Freunden und Unentschlossenen aufgeprägt wird; häufig werden aber dieser Autorität von Gegnern des Regimes neue Symbolbilder und Mythen entgegengehalten, mit denen das, was gilt, bloßgestellt und ausgehöhlt werden soll. Hier haben die Gerichte unter Umständen einiges zu sagen. Aber auch auf diesen mittleren Stufen sind sie ebenso wenig wie andere Staatsorgane der