Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Der Kampf um politische Herrschaft kann sich mithin auf viele und weite Gebiete erstrecken. Solange die letzte Autorität beim Territorialstaat liegt, werden indes politische Entscheidungen, die sich nicht im Dunkel geheimer Kammern und Konventikel verlieren, durch das Parlament, die vollziehende Gewalt und die Gerichte hindurchgehen müssen. Den Gerichten fällt dabei freilich der schmalste Entscheidungsbereich zu. Das Parlament macht die Gesetze und beaufsichtigt – wenigstens theoretisch – die allgegenwärtige Exekutivgewalt. Die Exekutive legt den politischen Kurs fest und bestimmt die Richtung der Verwaltungsarbeit. Besteht nun etwa die Rolle der Gerichte bei Entscheidungen über Angelegenheiten der Allgemeinheit darin, dass sie an die wichtigsten Probleme mit eigenen inhaltlichen Lösungen herangehen? Keineswegs; sie müssen lediglich bereit sein, in einer Vielzahl von Konfliktsituationen, unter denen der Zusammenprall zwischen den bestehenden Gewalten und ihren Feinden besonders hervorsticht, ordnend und regelnd einzugreifen. Vor mehr als drei Jahrzehnten hat Rudolf Smend zwar eindringlich auseinandergesetzt, dass die Verfassung die Gerichte von der Staatsleitung unabhängig gemacht und sie damit ausdrücklich von der Pflicht befreit habe, sich in den Dienst der staatlichen Integration zu stellen; praktisch aber, meinte er anschließend, könne es sein, dass die Gerichte nicht nur der Integration der Rechtsgemeinschaft, sondern auch der staatlichen Integration dienten.2
Allerdings hat es der Staat lange Zeit und in vielen Bereichen abgelehnt, sein Verhalten und die von Privaten gegen seine Organe geltend gemachten Ansprüche der gerichtlichen Entscheidung zu unterbreiten; ja, er lehnt das häufig auch heute noch ab, wenn auch in einem schrumpfenden Sachumkreis. Überdies geschieht es nicht selten, dass Gerichte, die Schwierigkeiten bei der Vollstreckung entsprechender Entscheidungen voraussehen, lieber für Enthaltsamkeitstheorien optieren und bestimmte Komplexe als »politische Fragen« von sich weisen, als dass sie das Prestige der gesamten richterlichen Institution aufs Spiel setzten. Umgekehrt wehren sich Staatswesen, die unter rechtsstaatlichen politischen Ordnungen operieren, im Allgemeinen nicht dagegen, das Schicksal ihrer Gegner zum Gegenstand von gerichtlichen Entscheidungen zu machen, um auf diese Weise die Bewegungsfreiheit oder die politischen Rechte dieser Gegner beschneiden zu können. Daneben ist es durchaus möglich – und seit dem 19. Jahrhundert eine immer häufigere Erscheinung –, dass sich auch Feinde der bestehenden Ordnung mit ihren Beschwerden an die Gerichte wenden: sie verwickeln führende Männer des Regimes in Beleidigungs- oder Verleumdungsprozesse, sie verlangen Schadenersatz von Behörden oder Beamten, denen sie Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit vorwerfen, sie gehen gegen Freiheitsentzug mit Habeaskorpusklagen und ähnlichen Rechtsbehelfen an.
Ist darin ein Zeichen dafür zu sehen, dass die Staatsgewalt ihren Feinden gegenüber großzügig und nachgiebig geworden ist? Ist sie nun bereit, Schutzmaßnahmen gegen Gegner und überhaupt die Auseinandersetzung mit ihnen einem Organ zu überantworten, das ihrer unmittelbaren Kontrolle nicht untersteht? Kommt es ihr mehr darauf an, dadurch Prestige zu gewinnen, dass ein solches unabhängiges Organ den Standpunkt der Machthaber anerkennt, als darauf, die uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit in der Behandlung von Widersachern zu behalten? Ergibt sich aus der Unmöglichkeit einer klaren Scheidung zwischen der eingriffssicheren privaten Sphäre und dem Sicherungsbereich des öffentlichen Interesses ein so hoher Vorrang persönlicher Unantastbarkeit, dass damit alle Widerstände gegen wirksame Schutzgarantien für Einzelpersonen und Personengruppen hinweggefegt werden? Oder ist die ganze Justizmaschine nur eine Fata Morgana? Beeinflussen die Erfordernisse des Staatsapparats die Praxis der Gerichte so gründlich, dass sich die gerichtliche Kontrolle der staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen als bloßes Ritual erweist? Und wenn es gleichermaßen übertrieben ist, in den Gerichten das Palladium der politischen Freiheit oder bloße Registrierstellen für anderswo getroffene Entscheidungen zu sehen, was ist dann die wirkliche Rolle der Gerichte im politischen Kampf?
Was sich auf diese verwickelten Fragen antworten lässt, ist weder eindeutig noch allgemeingültig. Die Behandlung wirklicher oder potentieller Gegner durch die verschiedenen politischen Regimes hat viele politische Wandlungen durchgemacht und ist auch in der Gegenwart nicht minder wechselvoll und wandelbar. In den meisten Geschichtsperioden, von denen wir genug wissen, wurde der politischen Aktion von Gruppen oder Personen, die mit den Zielen der Machthaber in Konflikt gerieten, keine Sphäre garantierter Straffreiheit eingeräumt. Um den Besitz und die Lenkung des staatlichen Zwangsapparates mochte wohl gerungen werden, aber jede der kämpfenden Parteien erachtete es als selbstverständlich, dass, wer siegte, auch über die Leistungs- und Treuebereitschaft der Staatsbürger verfügen durfte. Schon Solon soll diese epikureische Variante menschlichen Verhaltens so schädlich gefunden haben, dass er gegen sie mit einem besonderen Gesetz angehen wollte. »… vermutlich kam es ihm«, interpretierte Plutarch, »darauf an, daß niemand dem Staat gegenüber lau und gleichgültig sein oder sich gar, nachdem er sich und das Seine in Sicherheit gebracht, darin sonnen sollte, daß er an der Not und den Bedrängnissen des Vaterlandes nicht teilhabe; vielmehr sollte jeder sogleich die beste und gerechteste Partei ergreifen, mit ihr Wagnisse auf sich nehmen und ihr helfen – und nicht erst in Ruhe und Sicherheit abwarten, wer wohl die Oberhand behalten werde.«3
Solon zum Trotz überwog auf langen Teilstrecken das Prinzip der »Gleichschaltung«. Sofern politische Abweichungen geduldet wurden, beruhte die Großzügigkeit der Machthaber auf der relativen Stärke oder Schwäche der etablierten Machtpositionen; sie entsprang nicht selten einer einmaligen, sich kaum wiederholenden Kräftekonstellation. Erst im 19. Jahrhundert wurde in Staaten, die man damals – vielleicht voreilig – zivilisiert nannte, politischen Feinden der bestehenden Ordnung ein gewisses Maß an verfassungsmäßig verbürgtem Schutz mehr oder minder konsequent zugestanden. Im 20. Jahrhundert ist diese inoffiziell sanktionierte Sphäre systemfeindlichen Verhaltens wieder zusammengeschrumpft; sie ist zwar keineswegs verschwunden, aber doch in den meisten Teilen des Erdballs problematisch geworden. Was ist nun unter diesem Aspekt die Funktion der Gerichte in politischen Auseinandersetzungen? Lässt man die Verzierungen, Funktionserweiterungen und Rechtsgarantien des konstitutionellen Zeitalters außer Acht, so stellt sie sich, einfach und ungeschliffen ausgedrückt, so dar: Die Gerichte eliminieren politische Feinde des bestehenden Regimes nach Regeln, die vorher festgelegt worden sind.
Unter den vielerlei Vorkehrungen, die dazu dienen, das jeweils geltende Regime von seinen politischen Feinden zu befreien, erzielt die gerichtliche Aburteilung weder die zeitigsten noch die sichersten Resultate. Das angestrebte Ziel – die Ausschaltung des Gegners aus dem politischen Wettbewerb oder die Fortnahme seiner irdischen Güter – kann auch mit anderen Mitteln erreicht werden. Einige davon bringen die Anwendung brutaler Gewalt ohne jede Rechtsform mit sich und gelten als in höchstem Maße ordnungswidrig. Andere wieder gehören zum normalen Arsenal der Politik: der Stimmzettel, der in neuerer Zeit die Waffengewalt als politisches Kampfmittel zum Teil ersetzt, wenn auch nicht ganz verdrängt hat; die Kanzel, heute in gewissem Umfang von ihrem modernen Äquivalent, dem Massenkommunikationsmedium, abgelöst, das sämtliche Register des psychologischen Druckes zu ziehen weiß; schließlich des Makedonierkönigs Philipp Esel mit den Goldsäcken, die keinen Lärm machen und keine Spuren hinterlassen. Alle diese Mittel besorgen dasselbe, was das Gericht besorgen soll, und tun es, wenn man nur das allernächste Ziel im Auge hat, sogar besser. Gehört das Gerichtsverfahren wirklich ganz und gar in dieselbe Kategorie? Ist es nur ein anderes Werkzeug im kontinuierlichen Prozess der Stabilisierung oder Verschiebung der Machtverhältnisse? Worin besteht das qualitativ andere Element, das über die Ebene des Nächsterreichbaren hinausgreift?
Das Gerichtsverfahren dient primär der Legitimierung, damit aber auch der Einengung politischen Handelns. Die Sicherheitsinteressen der Machthaber mögen von der verschiedensten Art sein; manche sind, wenn sie auch nicht ohne weiteres einleuchten, durchaus rationalen Ursprungs, andere wieder Phantasieprodukte. Dass sich die Machthaber auf die Festlegung eines Maßstabes einlassen, der, mag er noch so vag oder noch so ausgeklügelt sein, die Gelegenheiten zur Beseitigung wirklicher oder potentieller Feinde einengt, verspricht ihnen