Politische Justiz. Otto Kirchheimer

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Politische Justiz - Otto Kirchheimer

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unzähligen potentiellen Opfern die Furcht vor Repressalien oder vor dem Liquidiertwerden und fördert bei den Untertanen eine verständnisvolle und freundliche Haltung gegenüber den Sicherheitsbedürfnissen der Machthaber.

      Je reichhaltiger die äußere Ausstattung der Authentifizierungs-apparatur, umso größer die Wahrscheinlichkeit der Anteilnahme der Volksmassen an ihren Mysterien. Ist das Verfahren zum größeren Teil dem Blick der Öffentlichkeit entzogen, so kann das Ja der großen Masse nur durch das Prestige derer, die da Recht sprechen, erlangt werden, ob dies Prestige auf Tradition, auf Magie oder auf der viel dünneren Glorie der rational zu bewertenden beruflichen Qualifikation beruhen möge. In einem Verfahren aber, das der Öffentlichkeit zugänglich ist, kann sich die Authentifizierung, die Regularisierung des Außerordentlichen, unter günstigen Umständen so auswirken, dass die Volksmasse dem Regime Verständnis, Sympathie und Bereitschaft zum Mitmachen entgegenbringt.

      Bei den heutigen Massenkommunikationsmitteln ist die Beteiligung am Gerichtsprozess nicht mehr auf die im Gerichtssaal Anwesenden oder – mit Verspätung – auf eine schmale Schicht von Gebildeten und Interessierten beschränkt. Wenn die Prozessveranstalter es wünschen, kann faktisch die ganze Welt dem Ablauf des Verfahrens folgen. Bei dieser Prozedur kann ein praktisch unbegrenztes Publikum Schritt für Schritt an der Offenlegung der politischen Wirklichkeit teilnehmen, wie sie hier dramatisch rekonstruiert und prozessgerecht auf Gesichtspunkte reduziert wird, die dem Massenverständnis leicht eingehen. Mit der Dynamik der Massenteilnahme wird eine neue politische Waffe geschmiedet. Die Massenmobilisierung des Meinens kann ein Nebenprodukt des Gerichtsverfahrens sein; sie kann aber auch – das ist in neuerer Zeit oft genug geschehen – ganz und gar an die Stelle des ursprünglichen Verfahrenszweckes, der Feststellung des politisch Legitimen, treten. Und sie kann die Grenzen, die dem Gerichtsverfahren normalerweise gezogen sind, weit verschieben oder ganz beseitigen.

       Der Staat und seine Gegner

      Was ein Staatsgebilde mit seinem Arsenal an Gesetzen, Sicherheitsplänen und Blankovollmachten anfängt, richtet sich nach der Geistesverfassung seiner Führung und nach dem Gewicht artikulierter Gegnerschaft, die sich im politischen Leben des Landes geltend macht. Diese beiden Faktoren hängen nicht notwendigerweise miteinander zusammen. Sind weite Schichten der Bevölkerung mit dem Regime unzufrieden, so wird es sich als politisch wirksam nur dann erweisen, wenn es von der Waffe der Justiz planvoll und überlegt Gebrauch macht: Wollte es seinem Justizapparat erlauben, jedem Einzelfall nachzulaufen, der sich zu einem Prozess aufbauschen ließe, so geriete es bald außer Atem und verlöre Gesicht. Die Gegner zu freiwilliger Zustimmung zu bringen, ist im günstigsten Fall ein schwieriges und langwieriges Unterfangen; potentielle Gegner dazu zu bewegen, dass sie Vorsicht walten lassen und sich fügsam verhalten, ist einfacher, setzt aber voraus, dass man nicht jeden gerade greifbaren Widersacher, sondern nur den wichtigen und gefährlichen Feind stellt. Wahllose Versuche, allseitigen Gehorsam zu erzwingen, führen leicht dazu, dass sich niemand mehr an Gesetze und Vorschriften hält, dass also die bestehende Ordnung nicht gefestigt, sondern untergraben wird.

      Um für die Niederhaltung politischer Gegner nicht gefühlsmäßige Schlagworte, sondern rationale Kriterien entwickeln zu können, muss das Regime die Fähigkeit aufbringen, zwischen dem isolierten Zufallsgegner und der organisierten Feindesgruppe zu unterscheiden und im Lager des organisierten Feindes Führer und Gefolgschaft auseinanderzuhalten. Ein Regime, dem das nicht gegeben ist, muss sich auf ein Risiko einlassen, das in keinem Verhältnis zum erzielbaren Erfolg steht. Einen unbedeutenden, isolierten Gegner zu schikanieren, mag eine billige Vorsichtsmaßnahme oder auch ein beliebter harmloser Zeitvertreib sein (man beweist sich selbst, wie stark man ist). Das Spiel kann aber auch gefährlich werden: Auf diese Weise werden Sympathiegefühle geweckt, wie sie die Masse gelegentlich für den Märtyrer übrig hat.

      Die Unterscheidung zwischen Führern und Gefolgsleuten, für die sich in den Strafgesetzbüchern die nötigen Hilfsmittel finden, garantiert in gewissem Umfang passiven Gehorsam und bewahrt den Vollzugsapparat der öffentlichen Ordnung davor, in Ohnmacht zusammenzubrechen oder zu einer bloßen Registriermaschine zu werden. Sie reicht gewiss nicht dazu aus, einem zerfallenden Regime über Katastrophen hinwegzuhelfen, die sich aus tieferen und umfassenderen Gründen nicht abwenden lassen, aber sie erspart ihm unnützen Aufwand und folgenschwere Blamage. Wird auf diese Unterscheidung, die den Mitläufern des Gegners die Gelegenheit gibt, aus der Kampffront auszuscheren, verzichtet, ohne dass gleichzeitig andere, primitive, universale und oft bestialische Formen der »Unschädlichmachung« – zum Beispiel Deportation oder Ausrottung nach »objektiven« Merkmalen der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder nationalen Gruppe, einer Gesellschaftsschicht oder einer Religionsgemeinschaft – angewandt würden, so gerät das Regime in ein schwer lösbares Dilemma. Wer zwischen Führern und Gefolgsleuten einer politisch feindlichen Organisation keinen Unterschied macht, wird nahezu automatisch dazu getrieben, die Strafverfolgung unübersehbarer Massen von Gegnern in die Wege zu leiten.

      Ein Dilemma dieser Art beschworen die amerikanischen Besatzungsbehörden in Deutschland herauf, als sie ihre deutschen Schutzbefohlenen veranlassten, Entnazifizierungsverfahren gegen sämtliche Angehörigen bestimmter, formal gekennzeichneter Kategorien einzuleiten, die eine Gesamtzahl von 3.669.230 Fällen ergaben. Diese millionenköpfige Masse hatte sich vor eigens dazu geschaffenen Organen zu verantworten, die ein Zwischending zwischen Strafgericht und Verwaltungsbehörde darstellten. Zweck des mit prozessualen Garantien ausgestatteten Verfahrens war, die zur Verantwortung Gezogenen je nach dem Grad ihrer Beteiligung an der Nazi-Politik in fünf Gruppen einzuteilen und der für die einzelnen Gruppen vorgesehenen Bestrafung zuzuführen.

      Schon durch den Massencharakter der geplanten Aktion war die Idee ordentlicher Gerichtsverfahren nach dem Fließbandsystem (die von den anderen Alliierten nur mit großer Zurückhaltung – und nur solange es ihren politischen Interessen und Plänen entsprach – nachgeahmt wurde) zum Scheitern verurteilt; zumeist wurde aus den Verfahren eine papierne Aktenprozedur. Die Entnazifizierungsaktion isolierte nicht die führenden Personen des Nationalsozialismus von ihrer Gefolgschaft, sondern knüpfte im Gegenteil ein festes Band zwischen allen Entnazifizierungsobjekten – von den wirklichen Lenkern des politischen, wirtschaftlichen und Massenbeeinflussungsapparats des Dritten Reiches bis zum letzten Schulmeister und Postbeamten. Sehr bald mussten die Initiatoren der Aktion ihr eigenes Geistesprodukt in einer Sturzflut von Amnestien ertränken, bei denen kaum noch das Gesicht gewahrt wurde; damit begaben sie sich jeder Möglichkeit, die wirkliche Schuld an der nationalsozialistischen Barbarei anzuprangern, denn gerade im eigenartigen Bündnis großer Teile der gesellschaftlichen Oberschicht mit den deklassierten Elementen der deutschen Gesellschaft hatten die Wurzeln des Übels gelegen.

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