Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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In diesem Mischtyp volksrichterlich-berufsrichterlicher Gerichtsbarkeit ist das Volkselement schwächer als das berufliche; das liegt daran, dass dem Geschworenen die fachliche Ausbildung fehlt und das Schwurgericht nur in begrenztem Umfang repräsentativ ist. Anders als das politische Staatsorgan, das über politische Gegner zu Gericht sitzt, vertritt dieser eigens ausgesuchte »Querschnitt« des Volkes, der den Berufsrichtern zur Seite steht, in der Tat Meinungen, die unter dem Volk in Umlauf sind; aber er hat nicht den meinungsintegrierenden und meinungsbildenden Charakter einer echten politischen Vertretung.
Gerichte, die speziell und ausschließlich für politische Komplexe zuständig sind, können für die Aburteilung besonderer politischer Vergehen ohne Berücksichtigung besonderer Kategorien von Tätern oder nur für die Aburteilung politisch hochgestellter Personen bestellt sein. Je nach den Umständen überwiegt in ihnen das politische oder das berufsrichterliche Element. An dem einen Ende der Skala kann man sich das französische Revolutionstribunal von 1793 denken, dessen fünf richterliche und zwölf Laienmitglieder gleichermaßen vom Konvent berufen wurden, und am andern die obersten Gerichte oder Verfassungsgerichte der heutigen westeuropäischen Länder, in denen das politische Element auf diese oder jene Form der Beteiligung des Parlaments an der Berufung der Richter, die Berufsjuristen sein müssen, reduziert ist. Zwischen diesen Extremen hat es mancherlei Mischformen gegeben.
Äußerlich scheint das Auf und Ab eines langwährenden Kampfes mit dem wenigstens zeitweiligen Sieg des bürokratisch-richterlichen über das politisch-demokratische Element geendet zu haben. Die Gerichte werden mit Berufsrichtern besetzt, und die Laien bleiben draußen oder können nur am Rande an der Urteilsfällung teilnehmen. Aber trotz dieses Triumphes des Berufsprinzips in der Besetzung der Gerichte und in der Auswahl des richterlichen Personals haben Veränderungen, die in den letzten hundert Jahren vor sich gegangen sind, der Rolle des Berufsrichters einen abgewandelten Sinn gegeben: Dem berufsrichterlichen Prinzip sind in gewissem Umfang politische Gegengewichte beigegeben worden.
Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts war der Berufsjurist auf der Richterbank ein Bediensteter des Fürsten; der Fürst berief solche fachlich Vorgebildeten in allgemeine richterliche Ämter oder auch – französisches System – zu besonderer Verwendung bei wichtigen Staatsgeschäften, die er seinen regulären Amtsträgern nicht anzuvertrauen gedachte. Der Fürst war ihr Arbeitgeber, der sie auch unter Umständen, sofern das Amt nicht eine käufliche Pfründe11 war, aus dem Dienst entfernen konnte und von dem allein sie Beförderung zu erwarten hatten. Aber mit der neuerworbenen Unabsetzbarkeit erhielten die Richter irgendwann zwischen 1701 und 1848 auch einen neuen Herrn: die öffentliche Meinung. In seiner unmittelbaren richterlichen Eigenschaft als Mitglied des Geschworenengerichts, die er allerdings nur gelegentlich ausübte, war der neue demokratische Herr, oft auch in Dingen der Politik unerfahren, weder sehr anspruchsvoll noch wirklich imstande, die politischen Nuancen und Konsequenzen der ihm vorgelegten Fälle immer und beizeiten zu übersehen. Indes erhob sich hinter dem Geschworenen eine neue Autorität, die weniger ausgeprägt und massiv war als der frühere fürstliche Gerichtsherr, dafür aber in der Regel viel eher allgegenwärtig und jedenfalls viel zäher und beharrlicher: der Kritiker im Parlament und – als sein Auge und Ohr – die Zeitung.
Am leichtesten vollzog sich der Übergang zum Richter der nachabsolutistischen Zeit in der englisch-amerikanischen Atmosphäre. Hier hatte der Richter, der aus den Reihen der erfolgreicheren Anwälte und Politiker kam, Gelegenheit genug, den im öffentlichen Bewusstsein vorherrschenden Strömungen überaus intensiv und mit viel Verständnis zu lauschen. Zwar konnte diese Art Aufnahmebereitschaft für vorherrschende Meinungen der Sache dieser oder jener energischen und hartnäckigen Minderheit, die sich zur übrigen Gesellschaft in Widerspruch setzte, nicht wenig schaden; dieser Schädigung besonderer Gruppeninteressen wirkte indes zweierlei entgegen: einmal der große Spielraum, den eine sorglos-nonchalante und dem Erwerb mit Erfolg ergebene Gesellschaft der persönlichen Freiheit konzedierte, und zum andern die gewohnheitsmäßige Neigung der Richter, den Folgen ihres eigenen Tuns und Lassens, die sich in den verschiedensten Gesellschaftsschichten am Wahltag einstellten mochten, Aufmerksamkeit und Beachtung zu schenken. Wo es – wie etwa im Chicagoer Haymarket-Prozess – zu ernsten Zusammenstößen kam, zeigte sich sogleich, dass in einer Gesellschaft, die vom Meinen beherrscht wird, eine wirklich unparteiische Haltung schwerlich über das Äußerliche, Technische hinausgehen kann; es zeigte sich aber auch, dass dem modernen Gerichtsprozess, der im Scheinwerferlicht der internationalen Publizität stattfindet, die sehr bedeutsame Fähigkeit zuwächst, weithin ausstrahlende Symbolbilder zu prägen.
In den konstitutionellen Monarchien Kontinentaleuropas wurde der Richter zu einer Art Puffer zwischen der öffentlichen Meinung und dem Eigenbereich der Bürokratie. Mit einem Fuß im bürokratischen Bereich und mit dem andern im gemäßigt liberalen Lager der Zeit, zugleich aber von der eigenen Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit überzeugt, besah sich der Richter skeptischen Auges sowohl das Betragen der gerade entstehenden Massenparteien als auch die Anstrengungen der Exekutive, sie zu unterdrücken oder, wenn das nicht gelang, mit Nadelstichen zu traktieren. Oft genug gab sich der Richter große Mühe, den politischen Inhalt des Konflikts zwischen dem Staat und den neuen Massenorganisationen auf seine reine Rechtsform zu reduzieren. Dabei hielt er sich strikt an seinen ureigensten Amtsbereich: Er erfüllte weder die Erwartungen der Exekutivgewalt, die seine tätige Mitwirkung bei der Unschädlichmachung der Hydra des »Umsturzes« forderte, noch die Hoffnungen der Gegner des Regimes, die von ihm verlangten, dass er ihnen helfe, das anzuprangern, was ihnen als Niedertracht und Verrottung der Machthaber erschien.
In der Dynamik der innenpolitischen Machtkämpfe des 19. Jahrhunderts mochte sich der Richter, der gerade dabei war, sich von der politischen Vormundschaft des Regierungs- und Verwaltungsapparats frei zu machen, gelegentlich als Schlichter sehen – mit der besonderen Aufgabe, zwischen der offiziellen Staatsmaschine und der Gesamtgesellschaft zu vermitteln.12 Während er die Gesetze des Staates anwandte, fühlte er sich vom wachsamen Auge der öffentlichen Meinung beobachtet, denn sie war über die Rolle eines Sprachrohrs der Staatsautorität hinausgewachsen und verwandelte sich immer mehr in die Stimme des Gemeinwesens, wie es sich die gebildete Minderheit vorstellte. Einige der intelligentesten Organe der öffentlichen Meinung glaubten inbrünstig an die Perfektibilität der menschlichen Institutionen; also wollten sie jeden Zwang aufs äußerste Mindestmaß reduzieren und waren schnell dabei, mit dem schwersten kritischen Geschütz auf staatliche Einrichtungen einschließlich der Gerichte zu schießen, die sie bei dem Versuch ertappten, Stimmen des Missklangs zum Schweigen zu bringen. Andere, die das Bedürfnis verspürten, traditionelle Werte gegen den Ansturm ordnungswidriger und begehrlicher Massen hochzuhalten, sahen in Vorstellungen von anhaltendem politischem und sozialem Fortschritt nur Lug und Trug und betrachteten die Gerichte als Bestandteil des Verteidigungssystems der herkömmlichen Gesellschaft, als eine Art zweite Verteidigungslinie, die die vorderste Frontlinie – Beamtentum und Heer – vor geistiger und politischer Zersetzung zu bewahren hätte.
Wo die ständigen Scharmützel zwischen den Staatsorganen und ihren Feinden immer weiter zunahmen und sich zu einem Konflikt von solcher Ausdehnung und solcher Schärfe auswuchsen, dass seine Zurückführung auf den niedrigsten juristischen Nenner nicht mehr möglich war, fand sich der Richter in einer schwierigen Lage: Jede Stellung, die er bezog, musste ihn vielen als parteiisch und voreingenommen erscheinen lassen. Unter solchen Umständen konnte es leicht passieren, dass die Richterschaft selbst von dem Gegensatz zerrissen wurde, der sich