Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Viel strenger ist unser Zeitalter in Fragen der äußeren Staatssicherheit und des Schutzes von Staatsgeheimnissen geworden. Ende des 18. Jahrhunderts, zu Zeiten des Oberrichters Lord Mansfield, wurden geschäftliche Beziehungen zwischen Angehörigen von Ländern, die miteinander Krieg führten, bedenkenlos toleriert; unser Zeitalter betrachtet sie als landesverräterisches Unternehmen. Angesichts der verfassungsmäßigen Rolle, die einer modernen »staatsfreundlichen« und regelmäßig am offiziellen politischen Spiel teilnehmenden Partei zugestanden wird, kann es sogar als logisch erscheinen, dass sich der Schutz der Staatsgeheimnisse auch auf die Privatakten einer politischen Partei erstreckt.3 Einen solchen Staatsschutz für Parteigeheimnisse hätte das 19. Jahrhundert als sinn- und zwecklos abgelehnt, denn es sah in den Parteien günstigstenfalls das Sprachrohr amorpher Massen, die in die Zitadelle der Staatsgewalt einzubrechen trachteten.
In gewissem Umfang hält sich auch noch unsere Gesellschaft an die Unterscheidung zwischen inimicus, dem privaten Widersacher, und hostis, dem Feind des Gemeinwohls. Wenn private Konflikte von strafwürdigem politischem Handeln abgehoben werden sollen, hat diese Unterscheidung als Richtschnur ungefähr dieselbe Bedeutung, wie wenn man die objektiven Wesenszüge und Entwicklungstendenzen des Kapitalismus den persönlichen Eigenschaften der kapitalistischen Unternehmer gegenüberstellt. In der Praxis können beide Elemente ineinandergreifen und einander verstärken. Private Zwistigkeiten zwischen Menelaos und Paris wurden oft zu einem großen Troja-Feldzug aufgebauscht. Nicht immer bleiben die öffentlichen Folgen privater Feindschaften auf so Geringes beschränkt wie im Falle der Entrüstung Bismarcks über seinen allzu eigenwilligen Botschafter Harry von Arnim, der am Ende nicht mehr entsprungen ist als eine obskure strafrechtliche Klausel.4 Ein Hochverratsdelikt machte der Tudor-König Heinrich VIII. aus dem Versäumnis der Königsgemahlinnen, den gekrönten Ehemann vom vorehelichen Verlust der jungfräulichen Tugend zu unterrichten.5 Despotische Herrscher des Altertums legen ebenso wie politische Machthaber der Neuzeit, die in der psychologischen Atmosphäre des Einparteienstaates agieren, die Tendenz an den Tag, die Scheidewand zwischen privaten Erwägungen und öffentlichen Bedürfnissen je nach Bedarf zu überspringen, beiseite zu schieben oder zu beseitigen, ja schließlich beides unterschiedslos im Stile Hermann Görings ineinander übergehen zu lassen.
1. Die Anfänge
In all seiner Vielfalt und Verschiedenartigkeit spiegelt sich das wechselnde Schutzbedürfnis des Staates in der Geschichte der Staatsschutzgesetzgebung wider, wobei sich hinter dem Wort »Staat« wiederum die mannigfaltigsten Formen der öffentlichen Organisation verbergen können. Der griechischen Polis, der römischen res publica, dem feudalen König, dem Ständestaat, der absoluten Monarchie, den konstitutionellen Regimes des 18. und 19. Jahrhunderts, der Massendemokratie und der totalitären Massengesellschaft sind verschiedene Vorstellungen über ihr Verhältnis zum Volk eigen, und eben diese Vorstellungen finden ihren Niederschlag im Wesen und in der Gestalt der Gesetze zum Schutze des Staates. Wo schon in früheren Zeiten sozusagen inhaltliche Bestimmungen auftreten, sind sie Ausdruck der Notwendigkeit, konkrete Gefahrensituationen formelhaft festzuhalten: Da geht es um den Versuch der Königssöhne, sich des väterlichen Amtes zu bemächtigen, um die unerlaubte Tötung von Geiseln, um die Unterstützung des Feindes bei der Einnahme einer Festung. Der frühe römische Begriff der perduellio wurde, seit sich die Volkstribunen dieses Rechtsmittels bemächtigt hatten, zum Instrument für konkrete politische Situationen, vor allem zur Abwehr der Plebs- und Tribunenfeindlichkeit der Aristokratie.6
Wenn schon die Definition der perduellio, wie sie in die Sprache der späten römischen Gesetzgebung7 eingegangen ist, das subjektive Element, den animus gegen die res publica, betonte, so wird der Begriff des crimen laesae maiestatis, der zum Teil perduellio verdrängt, erst recht zum Prototyp der Unbestimmtheit: Er umschließt jedwede öffentlich zum Ausdruck gebrachte feindselige Haltung gegenüber der res publica und ihrer Sicherheit. Kein Wunder, dass er sich, durch unzählige Detailbestimmungen ergänzt, aber nicht von ihnen abgelöst, über viele Jahrhunderte erhalten hat. Die besonderen Bedürfnisse der Machthaber, die nach Abhilfe in einer örtlich begrenzten oder vergänglichen Situation verlangen, treten nun in Konkurrenz mit den kautschukartigsten allgemeinen Formeln, die allen künftigen Bedarfsfällen Rechnung tragen sollen. Wird aber jede Handlung, die gegen die Lebensinteressen des Staatsgebildes verstößt, als politisches Verbrechen angesehen, so haben die Machthaber Blankovollmacht und können nach eigenem Gutdünken bestimmen, wo das Schutzbedürfnis des Staates anfängt und wo es aufhört. Im Gegensatz zum greifbaren und viel enger umgrenzten Tatbestand der Verstöße gegen das Eigentum und vor allem gegen die physische Sicherheit der Person besteht die Gefährdung des Staatsganzen oft in einer kaum fassbaren Beeinflussung zwischenmenschlicher Beziehungen in einem Sinne, der den Augenblicksinteressen der bestehenden Gewalten zuwiderläuft. Aber zumindest ist die behauptete Verletzung der Rechtspflicht, Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen, Voraussetzung der Bestrafung.
Innerhalb des »vagen Umkreises mit mehr als einem Mittelpunkt«,8 der die mannigfaltigsten Vergehen gegen die Inhaber der Macht umspannt, hatte der ursprüngliche historische Kern wohl primär mit dem Verhalten der Untertanen gegenüber dem äußeren Feind zu tun. Da ließ sich faktisches Verhalten nach den Regeln eines Treuepflichtkodex beurteilen, der sich weitgehend von selbst verstand und nicht viel Raum für Zweideutigkeiten ließ. Die scharfen Konturen verschwimmen jedoch sehr bald, wenn die Tatbestände über den ursprünglichen Inhalt der proditio, die unerlaubte Handlung oder Unterlassung vor dem Feind, hinausgehen. Welche psychologischen und politischen Äußerungen und Gebärden, die entlegene oder gar unübersehbare Konsequenzen nach sich ziehen können, gehören unterdrückt, weil sie sich auf die Geschicke der Machthaber nachteilig auswirken könnten?
Der zu erwartende Grad der Ergebenheit und Treue dürfte mit der Art der Beziehungen zusammenhängen, die zwischen den Loyalität heischenden Personen oder Institutionen und den zu Treue und Gehorsam Angehaltenen bestehen; seinerseits richtet sich der Charakter dieser Beziehungen unter anderem danach, ob die Organisation des politischen Gebildes lose oder engmaschig, fest gegliedert oder unstrukturiert ist. Mitunter gleicht die Feststellung dessen, was die Treueverpflichtung ausmacht, einem Kreisschluss: Nur weil sich gerade die Gelegenheit bietet, ein bestimmtes unerwünschtes Verhalten in Acht und Bann zu tun, kann ihm sehr leicht der Stempel der Treulosigkeit oder Staatsgefährdung aufgeprägt werden. Auch kann sich das Abwehrvermögen des Staatsgebildes in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Schutzbedürftigkeit entwickeln: Unter Umständen wird einem Feudalherrn, der seinen König zum Kampf herausgefordert hat, mit endloser Geduld und Versöhnungsbereitschaft begegnet, während der kleine Untertan um Kopf und Kragen kommt, weil er sich die Weissagung hat einfallen lassen, König Johann werde um Himmelfahrt nicht mehr König sein.9
Ist staatstreues Verhalten damit vereinbar, dass man für politische Neuerungen eintritt? Im republikanischen Rom, meinte Mommsen, sei »der Versuch, die bestehende Staatsform zu ändern«, zulässig gewesen, obschon diese Freiheit die Wiedererrichtung eines erblichen Königtums nicht einschloss; sie blieb ausdrücklich verboten.10 Es ist möglich, dass die Treuepflicht gegenüber