Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Scharfsinnige Versuche, die grundsätzliche Zulässigkeit politischer Veränderungen von der mit mancherlei Verboten bekräftigten Unzulässigkeit konkreter Mittel zu ihrer Herbeiführung abzugrenzen, sind Beschäftigungen der zweiten Hälfte des 18. und des 19. Jahrhunderts, gehören also schon dem Zeitalter des Konstitutionalismus an. In früheren Zeiten gelang es der Obrigkeit in der Regel, die Erörterung der Unvermeidlichkeit und Zulässigkeit von Neuerungen in erheucheltem Abscheu vor den zu ihrer Verwirklichung nötigen Mitteln zu ersticken. Von den Tagen der alten Griechen bis zum 18. Jahrhundert wurden Vergehen gegen den Staat in der unbestimmtesten Form belassen; zu ihnen zählte alles, was die jeweiligen Machthaber, sofern sie die Macht dazu hatten, auf diesen Nenner zu bringen für angebracht hielten. Als Staatsverbrechen konnten persönliche oder dienstliche Zwistigkeiten zwischen dem Souverän und seinen Beratern ebenso wie beliebige Verletzungen der fiskalischen Interessen des Staates behandelt werden. Das alles ging Hand in Hand mit dem festen Glauben daran, dass Vergehen gegen den Staat besonders verwerflich und verabscheuenswert seien und dass bei ihrer Verfolgung nicht nur keine besondere Sorgfalt in der Ermittlung der Tatsachen nötig sei, sondern dass man auch umgekehrt, um sie ans Tageslicht zu bringen, Mittel anwenden dürfe, die bei anderen Straftaten nicht geduldet werden könnten. Richelieu, Kardinal und Staatsmann, machte sich zum Fürsprecher einer weitverbreiteten Übung, als er schrieb: »… obwohl die Rechtspflege in gewöhnlichen Angelegenheiten einen echten Beweis erfordert, {ist} es bei Angelegenheiten, die den Staat betreffen, anders …, denn in diesem Fall muß man manchmal das, was durch unabweisliche Vermutungen an den Tag kommt, für genügend geklärt halten … In solchen Situationen muß man manchmal mit der Vollstreckung beginnen, während sonst die Klärung der Rechtslage durch Zeugen und unanfechtbare Beweisstücke immer allem anderen vorangeht …; da auch im schlimmsten Fall der Mißbrauch, den man im Rahmen dieser Praxis treiben kann, nur für die Privaten gefährlich ist, deren Leben aber auf diese Weise nicht angetastet wird, bleibt diese Praxis auch dann noch statthaft, weil sich das Interesse dieser Privaten mit dem der Allgemeinheit nicht vergleichen läßt.«11
Das republikanische Rom ließ bei maiestas-Delikten die Zeugenaussage eines Sklaven, der gefoltert werden durfte, sowohl zugunsten als auch zuungunsten seines Besitzers gelten. Seit den Zeiten des Tiberius durften in Verfahren, bei denen es um die Verletzung der maiestas ging, auch Bürger der Folter unterworfen werden. Von der Werdezeit der westlichen Staaten im 13. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts akzeptierten die Gerichte der Territorialherrscher ebenso wie die kirchlichen Gerichte die Folter als normalen Bestandteil des Untersuchungsverfahrens. (Heute sind solche Praktiken weniger allgemein oder weisen allenfalls ein offiziöses, kein offizielles Gepräge auf.) Zur Entwicklung der Inquisition hatte das brennende Interesse der Kirche an der Bekämpfung abweichender Glaubensvorstellungen Entscheidendes beigetragen.
In damaligen Zeiten erlegten sich die Machthaber, sofern ihre Interessen betroffen waren, bei der Festlegung und Anwendung der Normen nur minimale Beschränkungen auf, und wo Vorteile zu erlangen waren, wurde auf sie selten verzichtet. Landläufige Vorstellungen über die Förmlichkeit der rechtlichen Handhabung politischer Fälle in früheren Perioden stammen aus der ganz anderen Atmosphäre des 19. Jahrhunderts und müssen in die Irre führen. Politische Strafverfahren wurden oft im Handumdrehen abgewickelt, sofern nicht besondere politisch-taktische Erwägungen, die politische Position des Angeklagten oder die Stärkeverhältnisse unter den Prozessbeteiligten dagegen sprachen; so war es jedenfalls bis zum 18. Jahrhundert: Bis dahin konnte ein Verteidiger kaum Einfluss auf die Prozessführung nehmen, und die Ladung von Zeugen, die zugunsten des Angeklagten aussagen könnten, wurde oft radikal beschnitten. In vielen Ländern wurden politische Fälle hinter verschlossenen Türen als geheime Staatssache erledigt; verhört, und bisweilen endlos verhört, wurde im geheimen, auch dort, wo es dem Staat auf größere Publizität ankam. Mochte der Widersacher der herrschenden Mächte ein Adliger sein, der im Verdacht stand, Ränke geschmiedet zu haben, um einen Personenwechsel an der Spitze herbeizuführen, oder ein Würdenträger, der in Ungnade gefallen war, oder ein gewöhnlicher Bürger, der sich an einem Zusammenschluss religiös Abtrünniger beteiligt hatte: Seine Aburteilung war eher Sache der Staatsräson als Sache der Rechtspflege. In der Regel war der Angeklagte besser beraten, wenn er sich darauf verließ, erhört zu werden, sobald er die Obrigkeit um Gnade anflehte, als wenn er sich darauf versteifte, seiner eigenen Interpretation des Verhaltens, das ihm vorgeworfen wurde, Gehör und Geltung zu verschaffen.
2. Zeitalter der Rechtsstaatlichkeit
In weitem Rahmen vollzog sich ein umwälzender Wandel im 18. Jahrhundert. Die erste Englische Revolution hatte es erreicht, dass dem Staatsbürger die Freiheit zugebilligt wurde, für seine beruflichen, besitzrechtlichen und auch – was allerdings zweifelhaft blieb – religiösen Interessen einzutreten.
Den Auftakt zu Englands Glorreicher Revolution von 1688 bildete der Freispruch der sieben Bischöfe, die Jakob II. aus Gewissensgründen den Gehorsam verweigert hatten. In seiner Schlussansprache an die Geschworenen gab sich Richter Richard Allybone, der den Prozess leitete, die größte Mühe, zwischen dem legitimen Interesse der Einzelperson und den Angelegenheiten des Staates, über die der Privatmann nicht zu befinden habe, eine klare Grenze zu ziehen: »Niemand«, schärfte er den Geschworenen ein, »darf sich anmaßen, gegen die tatsächliche Ausübung der Regierungsgewalt zu schreiben, sofern er keine Erlaubnis von der Regierung hat, sonst begeht er eine Verunglimpfung, möge das, was er schreibt, wahr oder falsch sein. Keine Privatperson darf sich anmaßen, über die Regierung zu schreiben, denn sind wir erst einmal dazu gekommen, die Regierung durch Diskussion in den Anklagezustand zu versetzen, so entscheidet die Diskussion darüber, ob sie die Regierung ist oder nicht die Regierung ist … Was hat denn ein Privatmann mit der Regierung zu tun, wenn sein Interesse weder angefochten noch angetastet wird? … Geht die Regierung daran, meine besonderen Interessen anzutasten, so steht mir der Rechtsweg offen, und ich kann auf dem Rechtsweg Abhilfe erlangen … Es ist Sache der Regierung, Angelegenheiten zu verwalten, die zum Regierungsgeschäft gehören, und es ist Sache der Untertanen, nur auf ihr Eigentum und ihre Interessen bedacht zu sein.«12
Der Richter hatte sich vergebens abgemüht: Die Geschworenen lehnten es ab, auf ihn zu hören. Dennoch blieb das Recht auf politische Abweichung – außer im Parlament – ein Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten. Noch 1773 konnte Boswells Orakel erklären: »Kein Mitglied der Gesellschaft hat das Recht, eine Lehre zu verkünden, die dem, was die Gesellschaft für wahr hält, widerspricht. Der Richter, sage ich, kann mit dem, was er denkt, unrecht haben; aber solange er selbst glaubt, er habe recht, darf er und soll er das durchsetzen, was er für richtig hält.«13
Auch wenn die Grenzen des erlaubten politischen Andersdenkens weiterhin umstritten blieben, war der großen uneingezäunten Domäne der maiestas-Vergehen ein weiteres Stück Boden entrissen worden. Englische Gesetzgeber und Geschworenengerichte, der unsterbliche Beccaria und die Leuchten der deutschen akademischen Wissenschaft setzten sich einmütig für eine