Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Dazu boten einige Prozesse Gelegenheit, die zu den englischen Nachwehen der Französischen Revolution gehörten. An manchen Stellen war die Umgestaltung des englischen politischen Systems nach dem revolutionären Vorbild Frankreichs befürwortet worden; eine bewegte Diskussionskampagne hatte sich angeschlossen. Wegen Teilnahme an dieser Kampagne stand 1794 Thomas Hardy unter der Anklage des Hochverrats vor Gericht. Sein Verteidiger Thomas Erskine, später einmal Lordkanzler, versuchte, dem Gericht die Anerkennung des Menschenrechts auf Umänderung der gesellschaftlichen Verfassung abzuringen, war aber damit nicht an den richtigen Richter gekommen: Sir James Eyre legte den Geschworenen eine wesentlich andere Maxime nahe. Bedächtig sagte er in seiner Schlussansprache: »Erneut wurde hier die Überlegung vorgetragen, daß die Menschen das Recht haben, ihr Regierungssystem zu ändern. Diese These mag unter bestimmten Umständen richtig sein. Sie hätte aber nicht einem Gerichtshof unterbreitet werden dürfen, der verpflichtet ist, das Gesetz der bestehenden Staatsordnung anzuwenden und nicht zu dulden, daß ihm Neuartiges unterlegt werde … {Diese These} ist nur dazu angetan, das Denken der Menschen zu verwirren, das Verlangen nach Neuerungen hervorzurufen und alle Regierungsfundamente zu erschüttern.«15
Ganz sicher war, wie man sieht, der Richter seiner Sache nicht. Seine nicht ganz logische Vorstellung, dass das Recht auf politische Neuerungen bedingt akzeptabel, das Gericht jedoch außerstande sei, sich darauf einzulassen, fand bei den Geschworenen keine Gegenliebe: Hardy wurde freigesprochen.16
Das 19. Jahrhundert, das mit Angstreaktionen auf die Französische Revolution begonnen hatte, zeigte sich dennoch denen gegenüber, die von der geltenden politischen und sozialen Norm abwichen, in zunehmendem Maße nachsichtig. Und keineswegs insgeheim oder auf Umwegen. Das Recht der Menschen, die Grundlagen der bestehenden politischen Gebilde in Zweifel zu ziehen, wurde nach und nach, wenn auch bisweilen in unsteten Sprüngen, offen anerkannt.
Der Oberflächenanblick des Strafgesetzes vermittelt dabei nicht immer die richtige Sicht. So war in England im 19. Jahrhundert das Verratsgesetz Eduards III. aus dem Jahr 1351 immer noch in Kraft. Es musste mit jüngeren Auslegungsbestimmungen und mit einer neuen Aufruhrgesetzgebung konkurrieren; für Zwecke der politischen Strafverfolgung ließ sich freilich die altertümliche Waffe der Verratsanklage besser verwenden als die neueren Gesetze. Über die Handhabung des Verratsgesetzes in der Gerichtspraxis hat Sir James Stephen, selbst ein führender Strafrechtspraktiker und ein hervorragender Kenner der englischen Strafjustiz, mit trockener Ironie geschrieben: »Der Gesamteffekt des Ganzen ist, daß das so viel gepriesene Gesetz ein ungehobeltes und stümperhaftes Werk ist, das ebenso viele Fragen aufgeworfen hat, wie es gelöst haben kann, und das sich nur dann als erfolgreich erwies, wenn es nicht angewandt zu werden brauchte. Von der einen Partei wurde es gepriesen, weil sich seine Bestimmungen nicht auf verräterische Verabredungen und Verbindungen bezogen, und von der anderen, weil ihr das gefiel, was sich, wie sie feststellte, auf Grund dieses Gesetzes an gekünstelten Konstruktionen hervorbringen ließ. Die Tatsache, daß das Gesetz seit 530 Jahren in Kraft ist, zeigt, wie mir scheint, nur die äußerste Gleichgültigkeit des Publikums gegenüber der Art, wie die Gesetze, die es angehen, abgefaßt sind, ebenso wie die Anhänglichkeit des Juristenberufs an Formulierungen, die seit langem in Gebrauch sind und denen man einen gemachten Sinn beilegt. Sehen wir aber davon ab, wie das vorliegende Ergebnis zustande gekommen ist, und wenden wir uns diesem Ergebnis selbst zu, so läßt es sich, meine ich, nicht als übel bezeichnen, außer insofern, als der Begriff des Kriegführens {›gegen den König in seinem Reich‹ nach dem Wortlaut von 1351} in so weitem Sinne ausgelegt worden ist, daß auch große auf ein politisches Ziel gerichtete Unruhen darunter verstanden wurde.«17
Sowohl in England als auch in den Vereinigten Staaten, wo die gegen Ende des 18. Jahrhunderts wiederbelebte Aufruhrgesetzgebung18 auf Bundesebene nur von begrenzter Lebensdauer war, lag der Bestrafung von Verrat und Aufruhr eine unvorstellbar weite Definition der Delikte zugrunde. Überwiegend sah indes die Praxis anders aus: Rechtsdenken und Rechtsprechung der angelsächsischen Länder konzentrierten sich in den hundert Jahren von Waterloo bis zur Marne-Schlacht auf ergiebigere und verheißungsvollere Gebiete.19
Auf dem europäischen Kontinent richtete das juristische Denken des 19. Jahrhunderts seine Energien auf die Demontage der traditionellen perduellio- und maiestas-Vorstellungen. Unter dem mächtigen Einfluss der Aufklärungsströmungen bemühte man sich um die gegenseitige Abgrenzung der einzelnen im Komplex der »Staatsverbrechen« enthaltenen Bereiche, während vordem die Aufzählung der verschiedenen möglichen Situationen eher dazu gedient hatte, die weite Ausdehnung dieser Deliktsphäre zu veranschaulichen als sie zu begrenzen.20 Nunmehr neigte man immer mehr dazu, den gewaltsamen Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung, Verbrechen also gegen die innere Sicherheit des Staates,21 von der Gefährdung seiner äußeren Sicherheit, von der Beschädigung seines militärischen oder diplomatischen Schutzpanzers zu unterscheiden. Außerdem wurden diese beiden Typen von Delikten vom verbleibenden Inhalt des maiestas-Begriffes abgegrenzt, der für beleidigende Angriffe oder tätliche Anschläge auf die Person des Monarchen (manchmal auch auf Mitglieder des Herrscherhauses oder Regierungsangehörige) beibehalten wurde.
Eindeutig kam die Trennung der Verbrechen gegen den Fürsten von anderen politischen Delikten, die sich bereits in Preußens Allgemeinem Landrecht von 1786 (1794 in Kraft gesetzt) abgezeichnet hatte, im Code Napoléon zum Ausdruck, der der revolutionären Gesetzgebung von 1791 den letzten Schliff gab. Eine weitere Verfeinerung fand das neue Prinzip in den Schriften Anselm Feuerbachs. Auf Bemühungen um die gesonderte Klassifizierung der verschiedenen Kategorien politischer Delikte folgten schließlich Vorstöße gegen die wiederholten Versuche der Regierenden, die Gerichte für den Abwehrkampf gegen den Vormarsch »umstürzlerischer« Ideen zu mobilisieren. In seinen vielgelesenen Schriften Des Conspirations et de la Justice politique (1821) und De la Peine de Mort en Mutière politique (1822) warnte namentlich François Guizot, Historiker, Staatsbeamter und später Minister Ludwig Philipps, die Inhaber der Regierungsgewalt davor, die eigene Führungsaufgabe mit der ganz andersartigen Aufgabe der Gerichte zu vermengen, die darin bestehen sollte, konkrete Beschuldigungen aus Anlass strafbarer Handlungen – nicht aus Anlass anstößiger Meinungen – zu prüfen. Zunehmend regelte die rechtsstaatliche Ordnung die Ausübung der politischen Macht, und als strafbar wurden vorwiegend nur noch Handlungen angesehen, die einen gewaltsamen Angriff auf die Gesamtstruktur dieser Ordnung darstellten.
Unter einer Voraussetzung wird somit die Umgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung zum legitimen Vorhaben: Zur Erreichung des angestrebten Ziels dürfen ausschließlich legale Mittel angewandt werden. Schon im 19. Jahrhundert wurde politischen Gruppierungen in größerem Maße erlaubt, sich auf eine totale Umwandlung der bestehenden Ordnung zu orientieren. Solange sie sich an die vorgeschriebenen Mittel der Neugestaltung hielten und sich nicht in den Bannkreis der Gewalt hineinziehen ließen, wurde der Ummünzung der Gedanken in Propaganda ein gewisses Maß