Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Der erste Weltkrieg bezeichnete den Gipfelpunkt der nationalstaatlichen Entwicklung. Seit den ersten Nachkriegsjahren ist der Weg des Nationalstaats mit Zweifeln und Ängsten gepflastert. Die neue Welt, die keine Entfernungen kennt, erlaubt es weltweiten Interessengruppierungen und politischen Bewegungen, sich dem Wirkungsbereich der nationalen Rechtsordnung zu entziehen. Indes höhlen die organisierten Interessen die nationalen Bindungen nur in einer begrenzten, hauptsächlich wirtschaftlichen Ebene aus; von papiernen Projekten abgesehen, haben sie davon Abstand genommen, neue, überstaatliche Treueverpflichtungen zu begründen. Die internationale Partei oder die internationale Bewegung streckt ihre Arme nach weiter gespannten Zielen aus.
Das faschistische Eroberungsprogramm mit dem Aushängeschild einer »Neuen Ordnung«, das einen zugegebenermaßen ethnozentrischen Imperialismus kaum verhüllte, hat die Dämme und Deiche des Nationalstaates und seinen Monopolanspruch auf patriotische Treue so beschädigt, dass sie nicht wieder instand gesetzt werden können; die staatlich begrenzte »Nation« erlag der biologischen »Rasse« mit ihren im operativen Interesse einer Weltreichsstrategie je nach Bedarf neu zu ziehenden Demarkationslinien. Mit noch größerer zerstörerischer Gewalt hat der Universalitätsanspruch der Kommunisten die souveräne Hoheit des Nationalstaats getroffen.
Bewegungen solcher Art erheben, sobald sie an der Macht sind, Anspruch auf bedingungslosen Gehorsam. Und obgleich sie darauf aus sind, die einengenden Eigentümlichkeiten des Nationalstaates zu zerschlagen, hat ihr eigener Expansionsdrang mächtige Gegenantriebe innerhalb und außerhalb ihrer Herrschaftssphäre hervorgebracht, die der Anhänglichkeit der Staatsbürger an ihre jeweiligen Staatsgebilde neue Kraft geben, ganz gleich, ob diese Staatsgebilde dem Begriff »Nation« im Sinne der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts Genüge tun oder nicht. Das Staatsgebilde als solches ist heute die Verkörperung des Nationalen, der das Individuum patriotische Hingabe schuldet; das gilt für das totalitäre Imperium, in dem eine Herrennation über eine Anzahl untergeordneter Nationen herrscht, ebenso wie für einen aus vielen Nationen bestehenden Bundesstaat oder für überlebende Exemplare der alten Nationalstaatsgattung.
Einförmig ist das Bild allerdings ganz und gar nicht. Je größer der Bereich der noch verbleibenden nationalen Aktionsfreiheit, um so größeren Einfluss behalten nationale Bindungen auf das Denken und auf einzelne politische Bewegungen, umso weniger schrumpft das Nationale zum traditionellen Hilfsmittel für den territorialen Umbau von Staatsgebilden zusammen. Aber auch dort, wo – wie etwa in Westeuropa – nationale Bindungen an Bedeutung verlieren, weil neue Mittelpunkte überstaatlicher Zusammenfassung bestimmter gesellschaftlicher Lebensbereiche entstehen und die Interessenrichtung neue Brennpunkte bekommt, sind neue Symbole noch lange nicht in vollem Umfang an die Stelle der alten nationalen getreten.34 Die Folge ist eine eigenartige Übergangsperiode, die sowohl den nach festen neuen Bindungen Suchenden als auch denen, die die zerfaserten alten zusammenflicken und verstärken sollen, viel zumutet.
Obschon der Staat nach wie vor im Mittelpunkt des staatsbürgerlichen Bezugssystems steht, überschreiten heute einzelne Staatsbürger in stets wachsender Zahl – sei es in Geschäften, sei es aus Familiengründen, sei es als Touristen – die Landesgrenzen; diplomatische, wirtschaftliche und technische Agenten der internationalen Zusammenarbeit oder des internationalen Umsturzes müssen ohnehin im überstaatlichen Rahmen operieren. Doch sind das kleine Gruppen. Überdies werden die international tätigen Personen dem übernationalen Bereich oft nicht mit dem Auftrag zugeteilt, neue, internationale Bindungen zu begründen, sondern viel eher mit dem eindeutigen Auftrag, die alten nationalen Treueverpflichtungen zum Ausdruck zu bringen, zu vertreten oder zu propagieren. Ihrerseits haben die Volksmassen, sofern sie überhaupt in die Sphäre politischen Handelns hineingezogen werden, auf Umwegen stärkere patriotische Zugehörigkeitsgefühle entwickelt. Ihre Organisationen identifizieren sich mit der nationalen Sache und verschaffen sich damit eine wirksame Möglichkeit, den Druck der Massen gegenüber dem nationalen Staatsgebilde geltend zu machen und zugleich den Zusammenhalt ihrer Mitgliedschaft zu festigen. Das erhöht sowohl ihr eigenes Prestige als auch das Prestige der Massen, in deren Namen sie sprechen. Nationalstolz und nationale Bestrebungen dienen als bequemer Hebel zur Einflussnahme auf das Regierungspersonal und auf die ständig wachsenden Sozialdienste, die der Staat organisiert.35
Internationale Vereinbarungen über die Herstellung, Normung und Verteilung zahlreicher Waren – von Rüstungen bis zur Unterhaltung – können die Substanz des nationalen Lebens, namentlich in kleineren Ländern von minderem politischem Rang, zunehmend verarmen lassen. Aber internationale Einflüsse erreichen den letzten Verbraucher und Steuerzahler nur über das nationale Medium. Als Antrieb zu politischem Handeln bedeutet der Patriotismus zwar nicht mehr übermäßig viel, aber er erweist sich immer noch als taugliches Fundament für die Gesetzgebung zum Schutze des Staates. Gerade im Wettstreit mit den neuen staatlichen Kristallisationskernen von Treuebindungen und Treueverpflichtungen hat diese einzelstaatliche Gesetzgebung ihre Reichweite sprunghaft und ruckweise ausgedehnt. (Bindungen an die katholische Kirche, die in früheren Zeiten schwerer wogen als patriotische Pflichten, haben einen wesentlichen Wandel durchgemacht: Der übernationale Geltungsanspruch der Kirche ist insofern schwächer geworden, als ihre nationale Hierarchie in der Gegenwart entscheidend daran interessiert ist, sich den in der Demokratie geltenden Bedingungen organisierten Handelns anzupassen; solange die Kirche im gerade herrschenden System nicht einen grundsätzlichen Gegner des Gesamtkomplexes ihrer Glaubensvorstellungen und Integrationsmittel sieht, operieren ihre nationalen Einheiten in einem Rahmen, der in vielem dem Tätigkeitsrahmen der interessenorientierten Pressionsgruppen gleicht.)
Der Schutzpanzer des Staates wird, welche Struktur das einzelne Staatsgebilde auch haben möge, immer vielschichtiger und härter. Um sich den Wandel zu vergegenwärtigen, braucht man nur den hektischen Geist der heutigen Vorkehrungen für die Staatssicherheit mit der ruhigen Gelassenheit zu vergleichen, mit der vor dem ersten Weltkrieg in Kreisen der Regierungsbürokratie über geplante, aber nie verwirklichte Kampfmaßnahmen gegen die erstarkende sozialistische Bewegung und ihre um sich greifenden Agitationskampagnen beraten wurde.36 Die erste Folge dieses Wandels ist, dass der im 19. Jahrhundert richtunggebende Unterschied in der Einstellung zur äußeren und zur inneren Staatssicherheit seine durchschlagende Wirkung verliert. Die alten traditionellen Bestimmungen, die der inneren Sicherheit des Staates galten, werden, auch wenn sie offiziell in Kraft bleiben, von einem reißenden Strom neuer Gesetze hinweggespült.
Dabei verliert sich die unterschiedliche Behandlung innerer und äußerer Gefahren. Beides verschmilzt in Begriffen wie »moralische Zersetzung« (der Armee oder des Staates) oder »Gefährdung der Unabhängigkeit« (des Staates oder Staatenbundes). Charakteristisch dafür sind beispielshalber: in Frankreich die Artikel 76 Absatz 3 (vom 9. April 1940) und 76 Absatz 3d (vom 11. März 1950) des Code Pénal, die bei der Neufassung der Sicherheitsgesetzgebung im Juni 196037 zu einem neuen Artikel 71 Absatz 4 zusammengefasst worden sind;