Politische Justiz. Otto Kirchheimer

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Politische Justiz - Otto Kirchheimer

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eine berechenbare Sache, die ihrem Wesen nach außerhalb der Reichweite innerer Konflikte lag; es bestand nicht die Gefahr, dass das Volk in die Jagdgehege der Regierenden einbrechen könnte.33 Die Ausweitung des Verkehrs und der Verbindungen über die Staatsgrenzen hinweg, das eigentliche Wahrzeichen des industriellen Zeitalters, kündigte einen Wandel schon zu der Zeit an, da die Nationalstaaten entstanden und sich konsolidierten. Unmittelbar berührte das allerdings noch nicht die Bindung des Staatsbürgers an die Nationalgebilde, die aus der mühevollen Arbeit der Bürokratie, den ideologischen und materiellen Bedürfnissen der Mittelschichten und den Sehnsüchten und Hoffnungen der bis dahin in das staatliche Dasein nicht eingegliederten Massen hervorgegangen waren. Wirkliche Zweifel an der Existenzberechtigung des Nationalstaats brachten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Jünger Marx’ und Bakunins auf; dass ihre drohenden Gesten nicht sehr ernst zu nehmen waren, zeigte dann später das klägliche Versagen der Zweiten Internationale.

      Der erste Weltkrieg bezeichnete den Gipfelpunkt der nationalstaatlichen Entwicklung. Seit den ersten Nachkriegsjahren ist der Weg des Nationalstaats mit Zweifeln und Ängsten gepflastert. Die neue Welt, die keine Entfernungen kennt, erlaubt es weltweiten Interessengruppierungen und politischen Bewegungen, sich dem Wirkungsbereich der nationalen Rechtsordnung zu entziehen. Indes höhlen die organisierten Interessen die nationalen Bindungen nur in einer begrenzten, hauptsächlich wirtschaftlichen Ebene aus; von papiernen Projekten abgesehen, haben sie davon Abstand genommen, neue, überstaatliche Treueverpflichtungen zu begründen. Die internationale Partei oder die internationale Bewegung streckt ihre Arme nach weiter gespannten Zielen aus.

      Das faschistische Eroberungsprogramm mit dem Aushängeschild einer »Neuen Ordnung«, das einen zugegebenermaßen ethnozentrischen Imperialismus kaum verhüllte, hat die Dämme und Deiche des Nationalstaates und seinen Monopolanspruch auf patriotische Treue so beschädigt, dass sie nicht wieder instand gesetzt werden können; die staatlich begrenzte »Nation« erlag der biologischen »Rasse« mit ihren im operativen Interesse einer Weltreichsstrategie je nach Bedarf neu zu ziehenden Demarkationslinien. Mit noch größerer zerstörerischer Gewalt hat der Universalitätsanspruch der Kommunisten die souveräne Hoheit des Nationalstaats getroffen.

      Bewegungen solcher Art erheben, sobald sie an der Macht sind, Anspruch auf bedingungslosen Gehorsam. Und obgleich sie darauf aus sind, die einengenden Eigentümlichkeiten des Nationalstaates zu zerschlagen, hat ihr eigener Expansionsdrang mächtige Gegenantriebe innerhalb und außerhalb ihrer Herrschaftssphäre hervorgebracht, die der Anhänglichkeit der Staatsbürger an ihre jeweiligen Staatsgebilde neue Kraft geben, ganz gleich, ob diese Staatsgebilde dem Begriff »Nation« im Sinne der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts Genüge tun oder nicht. Das Staatsgebilde als solches ist heute die Verkörperung des Nationalen, der das Individuum patriotische Hingabe schuldet; das gilt für das totalitäre Imperium, in dem eine Herrennation über eine Anzahl untergeordneter Nationen herrscht, ebenso wie für einen aus vielen Nationen bestehenden Bundesstaat oder für überlebende Exemplare der alten Nationalstaatsgattung.

      Internationale Vereinbarungen über die Herstellung, Normung und Verteilung zahlreicher Waren – von Rüstungen bis zur Unterhaltung – können die Substanz des nationalen Lebens, namentlich in kleineren Ländern von minderem politischem Rang, zunehmend verarmen lassen. Aber internationale Einflüsse erreichen den letzten Verbraucher und Steuerzahler nur über das nationale Medium. Als Antrieb zu politischem Handeln bedeutet der Patriotismus zwar nicht mehr übermäßig viel, aber er erweist sich immer noch als taugliches Fundament für die Gesetzgebung zum Schutze des Staates. Gerade im Wettstreit mit den neuen staatlichen Kristallisationskernen von Treuebindungen und Treueverpflichtungen hat diese einzelstaatliche Gesetzgebung ihre Reichweite sprunghaft und ruckweise ausgedehnt. (Bindungen an die katholische Kirche, die in früheren Zeiten schwerer wogen als patriotische Pflichten, haben einen wesentlichen Wandel durchgemacht: Der übernationale Geltungsanspruch der Kirche ist insofern schwächer geworden, als ihre nationale Hierarchie in der Gegenwart entscheidend daran interessiert ist, sich den in der Demokratie geltenden Bedingungen organisierten Handelns anzupassen; solange die Kirche im gerade herrschenden System nicht einen grundsätzlichen Gegner des Gesamtkomplexes ihrer Glaubensvorstellungen und Integrationsmittel sieht, operieren ihre nationalen Einheiten in einem Rahmen, der in vielem dem Tätigkeitsrahmen der interessenorientierten Pressionsgruppen gleicht.)

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