Politische Justiz. Otto Kirchheimer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Politische Justiz - Otto Kirchheimer страница 20
Im Gefolge der neuen politischen Konstellation mit ihren neuartigen Sicherheitsvorstellungen findet ein seit langem schwelender Konflikt zwar keine geistige Lösung, aber eine gesetzgeberische Regelung. Soll der Freiheit des Individuums der größtmögliche Spielraum gewährt, sollen die Verbote und Strafen auf eindeutig definierbare Handlungen beschränkt werden, die ein fortgeschrittenes Stadium in den gewöhnlich als »Unternehmen« oder attentat gekennzeichneten Bemühungen um den gewaltsamen Sturz der politischen Ordnung anzeigen? Oder sollen bereits die frühesten Äußerungen einer feindlichen Haltung, die in sich vielleicht gar keine Folgen einschließen, im Keime erstickt werden? Einstweilen überwiegt die Neigung, schon potentiell staatsfeindliches Verhalten unter Strafe zu stellen.
Die Rechtsprechungspraxis war der gesetzgeberischen Neuerung schon lange voraus. So setzte sich in Frankreich schon in den zwanziger Jahren, wenn auch nicht auf die Dauer, eine den strafbaren Tatbestand erweiternde Auslegung des Gesetzes durch: Die Gesetze von 1883/84, die zur Bekämpfung des damaligen Anarchismus der »direkten Aktion« geschaffen und von einem wenig respektvollen Publikum »Schurkengesetze« getauft worden waren, wurden nunmehr auf kommunistische Propagandabemühungen, vor allem auf kommunistische Armeepropaganda angewandt. In Deutschland wurde dasselbe Ziel in einem viel weiteren Rahmen dadurch erreicht, dass die Gerichte dem Begriff des »Unternehmens« einen neuen Inhalt unterschoben. Schon in der Frühzeit der Weimarer Republik40 hatten die Gerichte entschieden, dass ein staatsfeindliches Unternehmen, jedenfalls ein von Kommunisten ausgehendes, strafbar sei, auch wenn eine konkrete umstürzlerische Absicht nicht bewiesen werden könne und die Erfolgsaussichten nur geringfügig seien.41 Dieselbe Methode hatte sich in das Bukett von Gesetzen gegen »Aufruhr« und »verbrecherischen Syndikalismus« eingeschlichen, die in den Jahren nach der Russischen Revolution von einzelnen USA-Gliedstaaten erlassen wurden. Viel später, in einer Welt, die nun schon unter dem Eindruck der Konsolidierung und Ausbreitung des Bolschewismus stand, wurde diese Lehre vom amerikanischen Richter Learned Hand in seine Marginalglosse zur »offensichtlichen und unmittelbaren Gefahr« von neuem aufgenommen.42
Derselbe Wandel in der Haltung zeigte sich auf einem nahe verwandten Gebiet. Von den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des ersten Weltkrieges, in der glücklichen Ära des niedergehenden Absolutismus und des Aufstiegs konstitutioneller Monarchien und liberaldemokratischer Ordnungen, wurde der Unterschied zwischen politischen und gewöhnlichen Straftaten von der öffentlichen Meinung und unter ihrem Druck auch von den Organen der Staatsgewalt oft anerkannt, selten in Frage gestellt. Dass sich der Staat, so wurde argumentiert, gegen seine Feinde sichern müsse, bedeute keineswegs, dass man den erkannten Feind als ehrlosen Schuft brandmarken müsse.43 Dabei mögen gewiss psychologischer und soziologischer Optimismus und romantische Hoffnungen eine Rolle gespielt haben.44 Aber jedenfalls führte diese Haltung dort, wo sie sich durchzusetzen vermochte, dazu, dass dem politischen Delinquenten besondere Vorrechte eingeräumt wurden. Eine besondere Skala sogenannter Ersatzstrafen wurde ersonnen; bisweilen fiel sogar die Todesstrafe weg; eine besondere Form von custodia honesta, der jeder ehrenrührige Beigeschmack abging, wurde geschaffen; unter gewöhnlichen Gefängnisbedingungen wurde den »Politischen« ein Mindestmaß an Sonderbehandlung zugestanden; in der Regel behielten sie die bürgerlichen Ehrenrechte. Seit dem Ersten Weltkrieg ist diese großmütige Haltung überall im Rückgang begriffen. Die neuen gesetzlichen Bestimmungen zeigen eine starke Neigung, den politischen Täter in vieler Beziehung, außer vielleicht in Bezug auf Auslieferung, auf die Stufe des gewöhnlichen Kriminellen zu stellen.45 Hin und wieder gibt es Proteste und Zweifel, wenn die Streichung der Sondervorrechte gewichtige Bevölkerungsschichten trifft – wie zum Beispiel im Gefolge der Nachkriegsprozesse gegen Kollaborateure in verschiedenen westeuropäischen Ländern.46 Nur wenige protestierende Stimmen lassen sich indes vernehmen, wenn die Opfer kleineren und weitgehend unpopulären Gruppen am Rande der Gesellschaft angehören.47
In den demokratischen Regierungssystemen ist die neue Gesetzgebung, die ältere Modelle der Unterdrückung und Bestrafung festigte und ausweitete, in zwei Wellen emporgekommen. Die erste Welle überzog Westeuropa am Vorabend des zweiten Weltkrieges und in seinen Anfangsstadien. Die zweite folgte dem Nachkriegsansturm der kommunistischen Expansion; sie nahm ihre endgültige Gestalt in den fünfziger Jahren an und ergriff vor allem die Länder, die vor Beginn der kommunistischen Offensive im Herrschaftsbereich der faschistischen Mächte oder in seiner Nähe gelegen hatten. Eins ist all diesen gesetzgeberischen Neuerungen gemeinsam: Sie beschränken strafbare Handlungen nicht auf die direkte Beteiligung an Bemühungen zum gewaltsamen Sturz der bestehenden Staatsordnung. Indem sie äußere und innere Sicherheit auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wollen sie die politische Ordnung vor jeder in der Endwirkung auf eine Revolution gerichteten geistigen, propagandistischen und namentlich organisatorischen Aktivität bewahren.48 Wenn die Gerichte prüfen, wie sich die angewandten Mittel zum gewollten Zweck verhalten, brauchen sie nun nicht mehr die Größe der Gefährdung des Staatsgebildes zu messen oder die Tragweite der den Angeklagten zur Last gelegten Handlungen zu untersuchen. Solchen Überlegungen scheint deswegen keine große Bedeutung mehr zuzukommen, weil die zentrale und überragende Gefahr darin gesehen wird, dass es angesichts der spezifischen Funktionsweise der Demokratie nicht möglich sei, die politischen Gegner daran zu hindern, von den demokratischen Rechten und Freiheiten zur Zerstörung von Recht und Freiheit Gebrauch zu machen.
Eben deswegen vermögen einschränkende Kriterien die Unbestimmtheit des neuen Umsturzbegriffes nicht zu korrigieren; eben deswegen wird der Gesamthaltung der angeschuldigten Gruppierung größeres Gewicht beigelegt als den tatsächlichen, mitunter belanglosen Erscheinungsformen eines Handelns, von dem angenommen wird, dass es revolutionär sei. Gelegentlich wird der Versuch gemacht, die Grenzen zwischen loyaler und staatsfeindlicher Opposition genau festzulegen. Das unternimmt zum Beispiel der neue § 88 Absatz 2 des Strafgesetzbuches der Bundesrepublik, indem er dem politischen Charakter dessen, was als »Verfassungsverrat« angesehen werden soll, inhaltliche Bestimmungen zu geben sucht. Auf Grund dieser Bestimmungen wurde schon vor dem Verbot der Kommunistischen Partei die Organisation zentral gelenkter Kampagnen für eine Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und für ein frühes Ableben des Regimes als Gründung und Förderung einer gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichteten Vereinigung unter Strafe gestellt.49 Nebenbei machen es die neuen Strafvorschriften unnötig, den Begriff des »hochverräterischen Unternehmens« erweiternd auszulegen. Da der Gesetzgeber einen vollgültigen Ersatz geliefert hat, kann das Gericht jetzt – ein Pyrrhus-Sieg für die Verteidigung – zugeben, dass der Tatbestand eines »bestimmten hochverräterischen Unternehmens« an einen »zeitlich und gegenständlich bestimmten Plan« gebunden sein und mehr umfassen muss als bloß regimefeindliche Propaganda.50 Zu den konkretisierten Bestimmungen über Verfassungsverrat kommen indes nunmehr auch detaillierte Bestimmungen darüber hinzu, was etwaige Propagandabeziehungen zwischen Einzelpersonen und Gruppen im Inland und Personen oder Institutionen im Ausland gesetzwidrig und strafbar macht.