Politische Justiz. Otto Kirchheimer

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Politische Justiz - Otto Kirchheimer

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und des entsprechenden Dekorums wachen. Eine Fülle neuer Bestimmungen bekämpft die Respektlosen, die Übelwollenden, die Widersacher, die Lügen verbreiten. Die zuletzt genannte Spezies kommt nicht selten vor; anstatt die Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie ist, und negative Interpretationen der Zustände auszuschlachten, versorgen die der bestehenden Ordnung grundsätzlich feindlichen Gruppen ihre Kundschaft mit einer radikal verzerrten Version der Wirklichkeit: Entweder wissen sie’s nicht besser – oder es kommt ihnen nur auf die vorausberechnete Wirkung an. Dagegen wehren sich die Hüter des Bestehenden. Wer sich an der Spitze der Staatsgewalt oder in ihrer Nähe befindet, wird durch einen höheren Straftarif geschützt, obschon die Vergeltung durch die dem Übeltäter belassene Möglichkeit eingeschränkt sein kann, seine Behauptungen zu beweisen.51 Strafbar ist schon die Beschimpfung oder Verächtlichung der verfassungsmäßigen Ordnung oder ihrer Symbole und Träger als gewollter Ausdruck einer feindseligen Einstellung zur Staatsautorität. Wird die publizistische Herabsetzung bestehender Institutionen als staats- oder verfassungsgefährdend angesehen, so können daraus strafverschärfende Wirkungen entstehen.52

      Die aus feindseliger Absicht erfolgende Verbreitung tatsächlicher Behauptungen kann auch dann verderblich sein, wenn sich die Behauptungen als erlogen erweisen lassen; wird aber das Behauptete als wahr erhärtet, so entsteht daraus leicht gefährlicher Sprengstoff von hoher Brisanz. Üble Nachrede, die das Prestige der Machthaber vernichten soll, verkleinert oft den Abstand zwischen den machtlosen Verächtern der Staatsgewalt und denen, die ihnen als Zielscheibe dienen. Zwischen diesen beiden Polen ist das Feld echter politischer Kritik von Wolken verhängt; sie lassen die Lichtstrahlen nicht durch, die Tatsachen von Phantasien und Wünschen trennen könnten. Was da zusammenfließt, auseinanderzuhalten und den Beitrag der böswilligen Verleumdung auszuscheiden, ist nicht einfach. Manche neuen Gesetze vernachlässigen diese Schwierigkeit und zerren legitime Kritik in den Bereich strafbarer Handlungen. So sichert der neue § 109d des westdeutschen Strafgesetzbuches der Bundeswehr einen besonderen Schutz vor Verleumdungen zu: »Wer unwahre oder gröblich entstellte Behauptungen tatsächlicher Art, deren Verbreitung geeignet ist, die Tätigkeit der Bundeswehr zu stören, wider besseres Wissen zum Zwecke der Verbreitung aufstellt«, setzt sich einer Gefängnisstrafe aus. Gefängnis droht auch dem, »der solche Behauptungen in Kenntnis ihrer Unwahrheit verbreitet, um die Bundeswehr in der Erfüllung ihrer Aufgabe der Landesverteidigung zu behindern.«

      Dass gesetzliches Rüstzeug für die Richter auf Hochtouren produziert wird, besagt nicht notwendigerweise, dass dies Rüstzeug unbedingt Verwendung finden muss. Die Eilarbeit der Gesetzgebungsfabrik ergibt sich aus den Ängsten des Augenblicks; ihre Produkte wirken wie Beruhigungspillen. Anders ausgedrückt: Man entwirft eine Konstruktions skizze, die genaueren Daten wird man je nach Bedarf später einsetzen – oder das Ganze in den Papierkorb werfen. Eine Bestandsaufnahme dieser Gesetzgebung entspricht einer Lagerinventur: Was verkauft werden kann, wird sich später herausstellen. Der Sicherheitsschutz des Staates ist überaus dehnbar. Auf keinem anderen Gebiet gibt es eine größere Kluft zwischen dem, was möglich ist, und dem, was wirklich geschieht; auf keinem anderen Gebiet hängt die Handhabung der Praxis in noch höherem Maße ab von den Erfordernissen der Stunde, den Stimmungen der Bürokratie und der Vorausschätzung von Gewinnen und Verlusten, die sich in der Empfindlichkeit der öffentlichen Meinung und in den Reaktionen der von Sanktionen bedrohten Gruppen niederschlagen.

      Das seines demokratischen Ausgleichs sichere England darf glauben, dass es sich leisten kann, mit gesetzgeberischen Regelungen und ihrer Vollstreckung sparsam umzugehen; es kann Sicherheitsmaßnahmen auf den Spionagekomplex beschränken und weitergehende Eingriffe ins politische Leben ausschließen. Sogar angesichts der Gefahr einer Lawine von race riots, Krawallen und pogromartigen Ausschreitungen gegen Menschen von dunklerer Hautfarbe, zeigt die englische Öffentlichkeit beträchtliche Hemmungen, auf den Hebel einer restriktiven Gesetzgebung zu drücken.

      Die Bundesrepublik Deutschland hat schon 1951 ein umfassendes Netz gesetzlicher Sicherheitsbestimmungen geschaffen, das sie seitdem ständig vergrößert, um jeden Hasser und jeden Hetzer (etwa Hitlerscher Schattierungen), der sich aus der Zone der gemäßigten Kritik hinauswagen sollte, einzufangen. Bis jetzt ist diese Gesetzgebung überwiegend dazu benutzt worden, die blassen Spuren der politischen Betätigung von Kommunisten systematisch, ohne Aufregung, mit geschäftsmäßiger Routine auszumerzen.

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