Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Die aus feindseliger Absicht erfolgende Verbreitung tatsächlicher Behauptungen kann auch dann verderblich sein, wenn sich die Behauptungen als erlogen erweisen lassen; wird aber das Behauptete als wahr erhärtet, so entsteht daraus leicht gefährlicher Sprengstoff von hoher Brisanz. Üble Nachrede, die das Prestige der Machthaber vernichten soll, verkleinert oft den Abstand zwischen den machtlosen Verächtern der Staatsgewalt und denen, die ihnen als Zielscheibe dienen. Zwischen diesen beiden Polen ist das Feld echter politischer Kritik von Wolken verhängt; sie lassen die Lichtstrahlen nicht durch, die Tatsachen von Phantasien und Wünschen trennen könnten. Was da zusammenfließt, auseinanderzuhalten und den Beitrag der böswilligen Verleumdung auszuscheiden, ist nicht einfach. Manche neuen Gesetze vernachlässigen diese Schwierigkeit und zerren legitime Kritik in den Bereich strafbarer Handlungen. So sichert der neue § 109d des westdeutschen Strafgesetzbuches der Bundeswehr einen besonderen Schutz vor Verleumdungen zu: »Wer unwahre oder gröblich entstellte Behauptungen tatsächlicher Art, deren Verbreitung geeignet ist, die Tätigkeit der Bundeswehr zu stören, wider besseres Wissen zum Zwecke der Verbreitung aufstellt«, setzt sich einer Gefängnisstrafe aus. Gefängnis droht auch dem, »der solche Behauptungen in Kenntnis ihrer Unwahrheit verbreitet, um die Bundeswehr in der Erfüllung ihrer Aufgabe der Landesverteidigung zu behindern.«
Als Kritiker dieser Bestimmung, ihrer Dehnbarkeit und Unbestimmtheit war im Bundestag der sozialdemokratische Sprecher Adolf Arndt aufgetreten, selbst Anwalt, vor dem Richter und Staatsanwalt.53 Ihre Anwendung hätte beinahe zu einem wütenden Zusammenstoß zwischen gläubiger pazifistischer Gesinnung und der offiziellen Regierungshaltung geführt, hätte nicht ein weiser Staatsanwalt das eingeleitete Strafverfahren gegen den Beleidiger der Bundeswehr niedergeschlagen. Denn der Beleidiger war Kirchenpräsident Martin Niemöller, der die Ausbildung zum Soldaten im modernen Heer der Ausbildung von »Kommandos« im letzten Krieg gleichgestellt und als »Hohe Schule für Berufsverbrecher« bezeichnet hatte. Die Staatsanwaltschaft umging die Paragraphenfalle, indem sie feststellte, Niemöller habe »keine unwahren oder gröblich entstellten Behauptungen tatsächlicher Art aufgestellt«, sondern »ein aus den Tatsachenbehauptungen bezüglich der Massenvernichtungswaffen gefolgertes Werturteil« abgegeben, und eine Verurteilung wegen Beleidigung kam nicht in Frage, weil Niemöller niemanden hatte beleidigen wollen und die Staatsanwaltschaft nicht daran zweifelte, dass er seine Äußerungen in Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht hatte.54
Mit der Verschärfung der Beleidigungs- und Verleumdungsbestimmungen ist die Fülle der neuen politischen Strafvorschriften nicht erschöpft. Eins der neuesten deutschen Gesetzeswerke, das Sechste Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. Juni 1960, sieht in der Aufstachelung »zum Haß gegen Teile der Bevölkerung« einen strafbaren Angriff auf »die Menschenwürde anderer.« Dasselbe Gesetz betritt das gefahrenreiche Terrain des Vorgehens gegen Symbole verbotener Organisationen in der Öffentlichkeit oder in Kommunikationsmedien.55 Zu beachten sind auch die Strafbestimmungen des neuen Artikels 226 des französischen Code Pénal vom Dezember 1958; hier wird den Gerichten der weitestgehende Schutz gegen jede nicht rein technische Kritik gewährt, sofern sie »unter Umständen, die geeignet sind, der Autorität der Justiz oder ihrer Unabhängigkeit Eintrag zu tun«, gerichtliche Handlungen oder Entscheidungen »in Mißkredit zu bringen sucht.«56 Nicht umsonst hat Maurice Garçon, der versierte Praktiker der Advokatur, bemerkt, dass das 18. Jahrhundert viel liberaler gewesen sei: Schließlich habe es Voltaire erlaubt, sich mit heftigen Angriffen auf die Richter für die Rehabilitierung des Andenkens des widerrechtlich verurteilten Calas einzusetzen; erst recht gelte das von den Anfängen des Kampfes um die Freilassung von Dreyfus: die Aktion habe in Angriff genommen werden müssen, lange bevor daran gedacht werden konnte, das für eine Revision des Urteils erforderliche Beweismaterial zusammenzutragen.57
Dass gesetzliches Rüstzeug für die Richter auf Hochtouren produziert wird, besagt nicht notwendigerweise, dass dies Rüstzeug unbedingt Verwendung finden muss. Die Eilarbeit der Gesetzgebungsfabrik ergibt sich aus den Ängsten des Augenblicks; ihre Produkte wirken wie Beruhigungspillen. Anders ausgedrückt: Man entwirft eine Konstruktions skizze, die genaueren Daten wird man je nach Bedarf später einsetzen – oder das Ganze in den Papierkorb werfen. Eine Bestandsaufnahme dieser Gesetzgebung entspricht einer Lagerinventur: Was verkauft werden kann, wird sich später herausstellen. Der Sicherheitsschutz des Staates ist überaus dehnbar. Auf keinem anderen Gebiet gibt es eine größere Kluft zwischen dem, was möglich ist, und dem, was wirklich geschieht; auf keinem anderen Gebiet hängt die Handhabung der Praxis in noch höherem Maße ab von den Erfordernissen der Stunde, den Stimmungen der Bürokratie und der Vorausschätzung von Gewinnen und Verlusten, die sich in der Empfindlichkeit der öffentlichen Meinung und in den Reaktionen der von Sanktionen bedrohten Gruppen niederschlagen.
Das seines demokratischen Ausgleichs sichere England darf glauben, dass es sich leisten kann, mit gesetzgeberischen Regelungen und ihrer Vollstreckung sparsam umzugehen; es kann Sicherheitsmaßnahmen auf den Spionagekomplex beschränken und weitergehende Eingriffe ins politische Leben ausschließen. Sogar angesichts der Gefahr einer Lawine von race riots, Krawallen und pogromartigen Ausschreitungen gegen Menschen von dunklerer Hautfarbe, zeigt die englische Öffentlichkeit beträchtliche Hemmungen, auf den Hebel einer restriktiven Gesetzgebung zu drücken.
In Frankreich weiß sich der bürokratische Apparat dank umfassender Delegation von Befugnissen vor störender parlamentarischer Einmischung geschützt. Neuerdings konnte er es sich sogar gestatten, vorsichtige Bedenken des Conseil d’État gegen seine Versuche willkürlicher Bevormundung unerwünschten politischen Verhaltens in den Wind zu schlagen.58 Neben der jüngsten Neufassung der Sicherheitsgesetzgebung hat er immer größere Berge von mitunter äußerst vagen inhaltlichen Sicherheitsbestimmungen und Verfahrensvorschriften aufgetürmt. Ihre Anwendung erfolgte gewöhnlich in sprunghaften Ausbrüchen; sie ist systematischer geworden, seit sich das Regime bemüht, nicht nur seine Gegner in Nordafrika, sondern auch deren Anhang im französischen Inland zu treffen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat schon 1951 ein umfassendes Netz gesetzlicher Sicherheitsbestimmungen geschaffen, das sie seitdem ständig vergrößert, um jeden Hasser und jeden Hetzer (etwa Hitlerscher Schattierungen), der sich aus der Zone der gemäßigten Kritik hinauswagen sollte, einzufangen. Bis jetzt ist diese Gesetzgebung überwiegend dazu benutzt worden, die blassen Spuren der politischen Betätigung von Kommunisten systematisch, ohne Aufregung, mit geschäftsmäßiger Routine auszumerzen.
In den Vereinigten Staaten besteht