Politische Justiz. Otto Kirchheimer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Politische Justiz - Otto Kirchheimer страница 18
In dem Maße, wie die Regierungsgeschäfte zur legitimen Angelegenheit der Allgemeinheit werden, fangen die Gerichte an, einen Unterschied zwischen erlaubten Methoden der Opposition und strafbaren, an Gewalt grenzenden Handlungen und Äußerungen zu machen. Sogar ein gegen die Sache der Angeklagten besonders voreingenommener Richter wie der Irenfeind Pennefather, unter dessen Vorsitz 1843 in Irland Daniel O’Connell und Genossen unter der Beschuldigung der Teilnahme an einer aufrührerischen Verbindung abgeurteilt wurden, sprach den Rebellierenden nicht grundsätzlich das Recht ab, radikale politische Neugestaltungsideen zu erörtern und sich in Eingaben an Königin und Parlament für sie einzusetzen;22 und im englischen Oberhaus wurde die Verurteilung O’Connells von den richterlichen Mitgliedern mit einer Mehrheit von drei liberalen gegen zwei konservative Stimmen aufgehoben.23 Was meistens umstritten bleibt, ist die Grenze zwischen legaler Propaganda und nicht-gewaltsamen Bemühungen um die Errichtung eines neuen Regierungssystems, mit denen die bestehende Ordnung so unter Druck gesetzt wird, dass sie im Endeffekt zusammenstürzen kann. Diese Grenze war schon bei der Chartistenpropaganda fraglich. Anders als unter den irischen Rebellen ließ sich unter der bunt zusammen gewürfelten Menge der Chartisten keine strenge Disziplin durchsetzen, und die Vieldeutigkeit ihres Programms, die einerseits auf geistige Konfusion, anderseits auf taktische Entscheidung zurückging,24 kam den Angeklagten auch vor Gericht nicht zustatten.25 Blickt man allerdings auf die Dinge von der Warte des 20. Jahrhunderts aus zurück, so tritt besonders anschaulich die nachsichtige Geduld hervor, mit der die englische Regierung die Chartisten mit ihrer Agitation und den daraus erwachsenden Unruhen gewähren ließ.26 Die im 19. Jahrhundert gezogene Toleranzgrenze mutet den heutigen Beobachter unwahrscheinlich großzügig an.
Viel ernster wurde der als Bedrohung der äußeren Sicherheit des Staates angesehene Verrat genommen. Sofern die Schuldigen fremde Staatsangehörige waren, wurde er oft, wenn auch nicht durchgängig, als Spionage bezeichnet und behandelt. Landesverrat in diesem Sinne traf nicht eine bestimmte verfassungsmäßige Ordnung, deren Umgestaltung bei der nächsten Wendung des politischen Geschicks oder mit dem Anbruch eines neuen Stadiums der gesellschaftlichen Entwicklung fällig sein mochte. Landesverrat bedrohte die Existenz des politischen Gesamtgebildes, nicht die vergängliche und wandelbare Form des Staatswesens, sondern den Nationalstaat selbst, und unterlag entsprechend schwerer Bestrafung.27
Seit sich der Nationalstaat als die endgültige Form der politischen Organisation der Gesellschaft durchgesetzt hatte, wurde Einvernehmen mit dem Feind mit den Merkmalen der schlimmsten aller Todsünden ausgestattet, wie sich beispielhaft in der Dreyfus-Affäre gezeigt hat. Umgekehrt wurden Politiker wie Boulanger oder Déroulède, die ja nur Komplotte schmiedeten, um sich in den Besitz der Macht zu setzen, eher als Gestalten aus einer komischen Oper behandelt. So wurde Déroulède, damals Führer der rechtsradikalen Patriotenliga, nach seinem missglückten Versuch von 1899, den General Roget zum Marsch auf den Elysée-Palast zu bewegen, lediglich eines Vergehens angeklagt und dementsprechend von einem Schwurgericht abgeurteilt. Vergebens verlangte er, wegen versuchten Umsturzes vor die Haute Cour gestellt zu werden. Erst nachdem er von den Geschworenen freigesprochen worden war, versuchte die Regierung, die Haute Cour für zuständig zu erklären, hatte jedoch damit keinen Erfolg.28 Prinzipiell hatten sich im 19. Jahrhundert der Liberalismus und der Nationalismus als Partner zusammengefunden und als einzig denkbare Daseinsform des politischen Gebildes den nach außen abgegrenzten Nationalstaat aus der Taufe gehoben. Damit war aus der Freiheit eine eingehegte Bahn geworden, auf der man sich innerhalb der Schranken der nationalen Ordnung zu bewegen hatte.
Strafbestimmungen gegen die Verunglimpfung des gekrönten Herrschers wurden beibehalten oder durch neue Bestimmungen zum Schutze des ungekrönten Staatsoberhauptes ersetzt. Jedoch galt der Schutz jetzt mehr der öffentlichen Funktion als der Person des Herrschers; das Gesetz behütete die personifizierte Staatsautorität, nicht mehr das symbolische Bild einer von Vertretern der göttlichen Macht gesalbten Majestät.29 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfuhr dieser weniger bedeutende Teil des Schutzpanzers der Staatsgewalt häufigere und heftigere Angriffe als alle anderen Bestandteile der staatlichen Rüstung. Da die Institution, die da geschützt wurde, die konstitutionelle Monarchie, besonders empfindliche Schwächen aufwies, konnte es wohl kaum anders sein.
Strafverfolgungen wegen Majestätsbeleidigung gab es noch in Hülle und Fülle in Ländern, an deren Spitze konstitutionelle Monarchen standen; in Deutschland allein wurden 1894 622 solche Fälle, 1904 noch 275 Fälle registriert.30 Das ergab sich aus der Struktur der Staatsform. Angriffe auf Kabinette, die dem Parlament nicht verantwortlich waren und nicht den Willen einer Parlamentsmehrheit repräsentierten, trafen automatisch die Person oder Institution, der es oblag, das Kabinett einzusetzen. Und jedes Mal wenn es vor Gericht verteidigt werden musste, wurde das Prestige der Monarchie von neuem heftig angenagt. Es machte nicht viel aus, dass der Wahrheitsbeweis für die beleidigenden Äußerungen nicht angetreten werden durfte31 oder dass die Aburteilung der Majestätsbeleidiger durch Geschworenengerichte mit allen Mitteln verhindert wurde.32 Mochte das Gericht aussehen, wie es wollte: Die Öffentlichkeit der Verhandlungen gestattete eine weithin publizierte Kritik an der Regierung. Von der Parlamentstribüne aus hätte sie nicht wirksamer vorgetragen werden können.
Angesichts der rückläufigen Welle der Verbrechen gegen den Staat mochte die Flut der Strafverfolgungen wegen Beleidigung des gekrönten Herrschers wie eine Anomalie anmuten. Was sich in ihr widerspiegelte, war die charakteristische Tatsache, dass die politische Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf die Mängel und Gebrechen der mitteleuropäischen Verfassungssysteme mit Sanftmut, ja fast mit verspielter Duldsamkeit reagierte.
3. Staatsschutz in der Gegenwartsgesellschaft
Im ganzen gesehen hat das System des eingeschränkten, unentschlossenen und von Gewissensbedenken belasteten Staatschutzes, wie es sich im 19. Jahrhundert kundgetan hatte, den ersten Weltkrieg, die symbolische Grenzscheide zwischen dem sterbenden Zeitalter des konstitutionellen Liberalismus und der turbulenten neuen Epoche der Massendemokratie und der totalitären Herrschaft, nicht überlebt. Die Revolution in Russland hat – anders als ihre französische Vorgängerin im 18. Jahrhundert – nicht eine fünfzigjährige Ära der Konsolidierung, Restauration und Befriedung eingeläutet. Von ihr und ihren Ausläufern wurde – mochte sie siegen oder Niederlagen erleiden, mit Unbehagen geduldet oder von den wütenden Gegenschlägen des Faschismus und des Nationalsozialismus getroffen werden – allen zum Schutz der bestehenden Staatsgebilde unternommenen gesetzgeberischen Bemühungen des Zeitalters ein unauslöschlicher Stempel aufgeprägt. Die Staatsschutzgesetzgebung der Gegenwart weist aber auch andere, nicht minder kennzeichnende Geburtsmale auf: Unverkennbar sind die Spuren, die die wechselvollen Schicksale des nationalstaatlichen Gebildes, sein endgültiges Reifen, sein Niedergang und seine fortschreitende Zersetzung, hinterlassen haben.
Was die Staatsräson des 18. Jahrhunderts zu einer wirksamen Maxime politischen Handelns hatte werden lassen, war die allgemein akzeptierte Daseinsvoraussetzung, wonach die Bevölkerung jedes einzelnen Staates von der Bevölkerung aller anderen Staaten nahezu völlig abgeriegelt war und in diesem Zustand auch belassen werden sollte.