Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Wie funktioniert dieser Notbehelf der Politik? Was haben die Beteiligten auf dieser und auf jener Seite, wenn sie die Gerichte anrufen, zu gewärtigen? Mit welcher Berechtigung dürfen die Gerichte als Organe angesehen werden, die Recht sprechen? Unter welchen Voraussetzungen werden die politischen Konflikte der Justiz unterbreitet, auf ein totes Gleis geschoben oder sang- und klanglos aus der Welt geschafft? Welche Wirkungen übt ihr geplanter, ihr erwarteter, ihr unerwarteter rechtlicher Ausgang auf die politischen Vorhaben aus, von denen sie ihren Ausgang genommen haben? Über all diese Dinge soll hier berichtet und das Berichtete zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden.
1 Die Merkmale von Regimes und Regierungen sind einer niedrigeren Abstraktionsebene entnommen als die Kennzeichen eines »politischen Systems«; sie bezeichnen einen höheren Grad der Konkretisierung.
2 Rudolf Smend: »Verfassung und Verfassungsrecht« {zuerst 1928}, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin, 1955, S. 208 f. Mit dem Bemühen, den Gerichten auf den verschlungenen Pfaden dieser ihrer Doppelrolle nachzuspüren, versuche ich, in die Fährnisse der von Smend betonten Befreiung der Gerichte von der Staatsleitung einzudringen.
3 Plutarch: Vergleichende Lebensbeschreibungen, Kapitel »Solon«, Abschnitt 20.
4 Siehe weiter unten Anhang A.
5 Aus der Fülle der Entnazifizierungsliteratur ist zunächst die amtliche amerikanische Bilanz hervorzuheben: Office of the U.S. High Commissioner: Fifth Quarterly Report, October 1st – December 21st 1950, S. 46-55. Über die Entnazifizierung der Justiz unterrichtet eine recht wirklichkeitsnahe Darstellung aus der Anfangszeit: Karl Loewenstein: »Reconstruction of the Administration of Justice in American-occupied Germany«, in: Harvard Law Review, Jahrgang LXI, S. 419-467 (Heft 3, Februar 1948), insbesondere 442 ff. Ein lebendiges Bild aus der lokalen Perspektive zeichnet John Gimbel: A German Community under American Occupation: Marburg, 1945 - 1952, Kapitel 9 und 10, Stanford (California), 1961.
6 Max Güde: »Justiz im Schatten von gestern. Wie wirkt sich die totalitäre Vergangenheit auf die heutige Rechtsprechung aus?« (Akademie-Vorträge zu sozialethischen Grundfragen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche, Heft 3), Hamburg, 1959.
7 Robert J. Bonner und Gertrude Smith: The Administration of Justice from Homer to Aristotle, Band 2, Chicago, 1938, S. 47.
8 Aus ähnlichen Überlegungen rechtfertigte der englische Oberrichter Lord Mansfield die militärischen Niederwerfungsmaßnahmen gegen die Teilnehmer an den »Gordon-Unruhen« von 1780, obgleich diese Maßnahmen ohne richterliche Legitimation angeordnet worden waren; siehe Simon Maccoby: English Radicalism, {Volume I:} 1762 - 1785, London, 1935, S. 329.
9 Formal konnte das Organ, von dem das Todesurteil gegen einen politischen Gegner ausging, ein politischer Amtsträger – zum Beispiel der Konsul – sein; in der Praxis dürfte ein solcher Amtsträger kaum Todesurteile verhängt haben, wenn er sich nicht auf die auctoritas des Senats stützen konnte. Vergleiche Gustav Geib: Geschichte des römischen Criminalprocesses bis zum Tode Justinians, Leipzig, 1842, S. 41 ff.
10 Theodor Mommsen: Römisches Strafrecht, Graz, 1955 (unveränderter photomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1899), S. 258.
11 Aus der Käuflichkeit der richterlichen Ämter erwuchsen dem französischen König erhebliche Schwierigkeiten bei der Absetzung unerwünschter Richter; siehe weiter unten Kapitel VIII, Abschnitt I.
12 In einer ungünstigeren Lage als seine Kollegen in den konstitutionellen Monarchien war von Anfang an der französische magistrat der Dritten Republik. Wenn Gesellschaft und offizielles Staatsgebilde, wie es in der parlamentarischen Republik den Anschein hatte, eins werden, kehrt sich der Richter mit verdoppelter Energie gegen die »Feinde der Gesellschaft«, denen dann in der Münze heimgezahlt wird, die sie in Umlauf gebracht haben sollen. Besonders klar trat das bei zahlreichen Anarchistenprozessen zutage; vergleiche zum Beispiel Élisée Reclus: L‘Évolution, la Révolution et l’Idéal anarchique, Paris, 1898, S. 101 f.
Kapitel II
Wandel in der Struktur des Staatsschutzes
Für die Unterscheidung des politischen Handelns von anderen Typen gesellschaftlichen Handelns gibt es keine allgemeingültigen Kriterien. Politisch nennt man das, wovon man annimmt, dass es in besonders engem Zusammenhang mit den Interessen des organisierten Gemeinwesens stehe. Jede herrschende Gruppe, Klasse oder Person bildet entsprechend der Vorstellung, die sie sich von ihren eigenen Bedürfnissen macht (und die sich nicht immer mit ihren »objektiven« Bedürfnissen deckt), Maßstäbe heraus, nach denen sich entscheidet, welche Handlungen als sträflich gelten und wann sie als so gravierend angesehen werden, dass gegen sie öffentlich eingeschritten wird. In diesem Sinne können im Laufe der Zeit unzählige »politische« Geschehnisse zur öffentlichen Rechtssphäre geschlagen werden, aus ihr ausscheiden und wieder in sie einbezogen werden. Unter vielen römischen Kaisern wurde häufig der geringste Unterlassungsakt, der sich als Zeichen mangelnden Respekts deuten ließ, als Verstoß gegen die maiestas behandelt; dazu konnte die Unterlassung einer Ehrenbezeigung vor einem Bildnis des Herrschers ebenso gehören wie die an einen Wahrsager gerichtete Frage nach den Gesundheitsaussichten des Kaisers.1
Unserer heutigen westlichen Gesellschaft gilt ein gewisses Maß an Missachtung der jeweiligen obersten Gewalten als Beweis für die Vorherrschaft politischer Freiheit; manchen Trägern der Staatsgewalt erscheint daher eine solche Missachtung der Autorität als psychologisch zuträgliches Zugeständnis an den Geist der Zeit. In anderen Gebietsbereichen werden indes dieselben Tatbestände von den Trägern der Staatsgewalt zum Anlass genommen, die Gesetzbücher mit neuen Bestimmungen zum Schutze ihres Erbteils gegen dessen Verächter zu füllen.
Als sich Heinrich II., der erste Plantagenet-König, mit seinem Kanzler Thomas à Becket, Erzbischof von Canterbury, stritt, war für beide der Zuständigkeitsdisput zwischen Staat und Kirche der eigentliche Inhalt des politischen Machtkampfs. In unserem Zeitalter und in unserem politischen Klima werden solche Auseinandersetzungen eher in Abstimmungen über staatliche Zuschüsse als mit Strafbestimmungen ausgetragen.