Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Allgemeine Betrachtungen über die Unterschiede zwischen der Strafverfolgung der gegnerischen Führerschaft und der Zurückdrängung oder Einhegung der Gefolgschaft einer feindlichen Organisation geben Anlass zu konkreteren Feststellungen. Betrachtet man die Gegner eines politischen Regimes nicht als gefährlich widerborstige Einzelpersonen, sondern als politische Bewegungen, so muss man institutionelle Konsequenzen ins Auge fassen. In unserem Zeitalter ist die Gegnerschaft gegen ein bestehendes Regime kaum jemals die Angelegenheit kleiner, locker zusammengefasster Gruppen von Individuen, und noch seltener entspringt sie dem diffusen Aufbegehren privilegierter Gruppen auf den obersten Sprossen der gesellschaftlichen Stufenleiter. Auch geht es bei der Gegnerschaft der größeren organisierten Sektoren nicht um die Verteidigung einer bestimmten Sphäre (Religion, Eigentum und so weiter) gegen Übergriffe von Machthabern, die bereit wären, auf allen anderen Gebieten Kompromisse zu schließen. Seit dem 19. Jahrhundert, seit den Tagen der irischen Nationalisten, der englischen Chartisten und der deutschen Sozialdemokraten hat sich die kunstvolle Technik der regimefeindlichen Organisation, die aus der aufopferungsvollen Hingabe ihrer Anhänger ihre Lebenskraft schöpft, ebenso mächtig entwickelt wie die Herrschaftsorganisation der Staatsgewalt. Gelingt es einer solchen Gegenorganisation, die materiellen und ideologischen Interessen größerer Schichten aufzufangen und mit ihren Zielsetzungen zu verschmelzen, so steht das Staatsgebilde, das sich des faschistischen oder kommunistischen Systems der totalen Unterdrückung politischer Abweichungen nicht bedienen will, vor entscheidenden Problemen der politischen Lenkung und Kontrolle der Massen.
Beim beschleunigten Tempo politischer Umwälzungen in der Zeit, in der wir leben, kommt darüber hinaus dem Problem der gerichtlichen Aburteilung eines besiegten Regimes auf Geheiß des Siegerregimes eine nicht geringe Bedeutung zu. Einen politischen Gegner in Schach zu halten und die Gerichte dafür zu mobilisieren, ist etwas anderes, als einen Gegner, den man glücklich gestürzt hat, strafrechtlich zu verfolgen; die gerichtliche Prozedur entspringt in diesen grundverschiedenen Fällen nicht unbedingt denselben Motiven. In neuerer Zeit hat sich das politische Glück als sehr unbeständig erwiesen, und so manche Hydra, der politische Feinde den Kopf abgeschlagen hatten, hat neue Köpfe wachsen lassen. Aus der Möglichkeit und der Gefahr eines erneuten Umschwungs erklärt sich das intensive Interesse, das ein neuetabliertes Regime den Taten und Untaten seiner Vorgänger zuwendet; es sucht sie als verächtliche Kreaturen hinzustellen und benutzt die gerichtliche Erörterung der jüngsten Vergangenheit dazu, die breiteste Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das Land denen, die es aus dem Sumpf der Korruption und des Verrats befreit haben, in alle Ewigkeit Dank und Treue schulde; die jüngsten Illustrationen zu diesem Thema haben die von den neuen türkischen, südkoreanischen und kubanischen Machthabern veranstalteten Prozesse geliefert. Ein Regime, das sich solchermaßen anschickt, seine Vorgänger mit Hilfe der Gerichte zu diffamieren, hat zuvor das schwierige Problem zu lösen, wie es seinen erzieherischen und aufklärerischen Zielen die geeignete juristische Form gibt: Es muss das Element des Parteiischen, das solchen Verfahren unvermeidlich anhaftet, nach Möglichkeit reduzieren, und es muss intelligent genug sein, die politische Verantwortung für Fehlkonzeptionen und für noch so gravierende Irrtümer von der strafrechtlichen Verantwortung der einstigen Machthaber für die von ihnen oder auf ihre Veranlassung begangenen verbrecherischen und unmenschlichen Taten eindeutig und unmissverständlich abzugrenzen.
Mit der ständigen Vermehrung der Gefahren, die den existierenden Staatenordnungen drohen, rückt aber auch noch ein anderes Problem, ein alt vertrautes allerdings, in den Vordergrund. Da das Staatsinteresse als identisch gilt mit dem Interesse jedes Staatsbürgers, wird seit eh und je die Frage erörtert, ob auch jeder Staatsbürger bei akuter Gefahr aus eigener Entscheidung handeln dürfe, um die Erhaltung des Staates zu sichern. Eine uralte Lehre, die in Athen schon 410 v. Chr. Gesetzeskraft erhalten hatte,7 billigte jedem das Recht zu, den Übeltäter zu töten, der einen Anschlag auf die politische Ordnung der Polis verübte oder wesentliche Eingriffe in ihre Struktur vorgenommen hatte.8
Die These, dass wer immer sich gegen das bestehende Regime erhebe, damit auch seine eigenen staatsbürgerlichen Rechte verwirke und als Feind behandelt werden müsse, führt ein zähes Dasein. Sie ist sinnvoll und hat eine gewisse Berechtigung, wenn der Angriff auf das Regime die Organe des Staates nicht nur in der theoretischen Abstraktion, sondern auch in der konkreten Wirklichkeit am Funktionieren hindert: Das ist der ursprüngliche Kern aller Lehren vom Kriegsstandrecht. Wird aber diese These auch auf andere Situationen ausgedehnt, so führt sie zu einer ungerechtfertigten Neuverteilung der verfassungsmäßigen Aufgabenbereiche zugunsten der vollziehenden Gewalt zu einer Zeit, da es unverbrüchlicher Garantien gegen eine solche Funktionsverlagerung am meisten bedarf. Als Cicero die Catilinarier hinrichten ließ, ohne ihnen Gelegenheit zu geben, vom Recht der provocatio an die Zenturiatkomitien Gebrauch zu machen, lieferte er der Nachwelt den klassischen Präzedenzfall. Der politischen Anarchie öffnet diese Lehre in dem Moment Tür und Tor, da jeder aus parteipolitischen Gründen ersonnene Mord an einem Gegner damit beschönigt werden darf, dass er dem vaterländischen Interesse diene. Genug Anschauungsmaterial zu diesem Thema haben die ersten Lebensjahre der Weimarer Republik hinterlassen.
Dass ein Staatsgebilde gut funktioniert, erweist sich daran, dass es über das nötige Rüstzeug verfügt, um seine Gegner nach vorher festgelegten Regeln und Zuständigkeitsabgrenzungen im Zaum zu halten, und dass es vom zweifelhaften Beistand ungerufener Parteigänger, die zur Selbsthilfe greifen, nicht überrannt werden kann. Damit es ohne schwere Störungen arbeiten könne, müssen die größtmöglichen Garantien dafür gegeben sein, dass Maßnahmen, die nur einer Partei oder Gruppe zum Vorteil gereichen, nicht als im öffentlichen Interesse erforderlich ausgegeben werden können. Aus dieser Sicht wird im vorliegenden Buch bei der Analyse der Typen geregelter Zuständigkeit für politische Rechtsfälle von der Darstellung des offenkundigen Legitimierungsversuchs begrenzter Sonderinteressen abgesehen. (Besonders häufig sind solche Bestrebungen in rudimentären Staatsgebilden – wie etwa den Barbarenreichen des frühen Mittelalters – wo sie der bloßen Sanktionierung der jeweiligen Ergebnisse einer nie abreißenden Kette privater Fehden gleichen.) Abgesehen wird hier aber auch von dem in unseren Zeitläuften nicht ganz seltenen Fall einer Staatsexekutive, die für sich keinen anderen Rechtstitel in Anspruch zu nehmen weiß als das eigene Bedürftigkeits- und Opportunitätszeugnis. (Eines solchen Stils bediente sich zum Beispiel Hitler beim sogenannten Röhm-Putsch vom Frühsommer 1934.)
Wer richtet?
Je umfassender und je weniger eindeutig bestimmbar die Regeln sind, die erlaubtes politisches Verhalten von unerlaubtem scheiden, desto wichtiger ist die Antwort auf die Frage, wer berufen sei, diese Regeln zu hüten und anzuwenden. In hohem Maße dreht sich die Geschichte der politischen Rechtsprechung um die Grundsätze, nach denen die mit der Urteilsfindung Betrauten ausgewählt werden. Die Vielfalt der Organe, denen im geschichtlichen Ablauf die Zuständigkeit für politische Rechtsprechung übertragen wurde, beweist im Grunde, wie sehr die jeweiligen Machthaber bei der Vervollkommnung ihrer juristischen