Politische Justiz. Otto Kirchheimer

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Politische Justiz - Otto Kirchheimer

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nicht juristische – Endgültigkeit, die dem gerichtlichen Urteil in einem politischen Fall normalerweise zukommt, ohnehin in bescheidenen Grenzen hält, kann die Staatsgewalt auch noch die Macht eingebüßt haben, die sie braucht, um die Vollstreckung des Urteils gegen das widerspenstige Individuum und seinen Anhang durchzusetzen. Dann ist das Urteil bloß ein vergängliches Moment in der Umwertung der gesellschaftlichen Werte und in der Umgestaltung des Gesamtsystems der institutionellen Vorkehrungen.

       Wandel, Ideologie, Opportunität und Gerichte

      Viele der innergesellschaftlichen Konflikte, die um die Jahrhundertwende im Vordergrund gestanden hatten, haben sich verflüchtigt; die Springfluten haben nur ein leichtes Wassergekräusel hinterlassen. Dafür sind andere Konflikte entstanden und aus innerstaatlichen zu weltweiten geworden. Der politische und ideologische Kampf erst zwischen dem Faschismus und der Demokratie, dann zwischen dem Kommunismus und den älteren Formen politischer Arrangements (der Massendemokratie, den halbautoritären Systemen und anderen) geht sowohl innerhalb einzelner Staaten als auch unter den Staaten vor sich und bringt neuartige und mit Ausschließlichkeitsanspruch auftretende Klientel-, Freundschafts- und Feindschaftsbeziehungen hervor. Die Justiz wird zwangsläufig in den Strudel dieser Konflikte hineingezogen, denn mit ihnen haben sich – ungeachtet der traditionellen Formeln, die noch in Gebrauch sein mögen – die Grundvoraussetzungen und die Arbeitsmethoden der Rechtsprechung grundlegend gewandelt. Diese Wandlungen lassen sich folgendermaßen kennzeichnen:

      1. Die allgemeine Ausbreitung des politisch-ideologischen Konflikts und der mit ihm verbundenen militärischen und politischen Risiken hat alle politischen Regimes dazu gebracht, die polizeilichen und formlos-institutionellen Kontrollen über den Umgang, die organisatorischen Verbindungen und die politische Betätigung der Staatsbürger wesentlich zu verschärfen. Alle Staatsgebilde beschränken besonders nachdrücklich die Bewegungsfreiheit der Bevölkerungsteile, von deren Tätigkeit sich in dieser oder jener Beziehung annehmen lässt, dass sie auf die ideologische oder materielle Wehrfähigkeit des Landes Rückwirkungen haben könnte. Da die zu diesem Zweck ausgebauten Überwachungs- und Kontrollfunktionen zu einem beträchtlichen Teil die Wirtschaft, die gesellschaftlichen Beziehungen und Nebengebiete des Politischen betreffen, liegen sie abseits von der Zone direkten politischen Zwanges; sie gelangen daher nur peripher und beiläufig in den Bereich gerichtlicher Prüfung.

      2. Solche Kontrollen werden von der großen Mehrheit der Bevölkerung durchaus nicht mit Empörung abgelehnt; ganz im Gegenteil: Sie entsprechen den entscheidenden Meinungstrends der modernen Massengesellschaft.

      3. Zum Unterschied von der öffentlichen Meinung des 19. Jahrhunderts vollzieht sich die Meinungsbildung in der heutigen Gesellschaft auf einer Massengrundlage; sie zieht die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in ihren Strahlungsbereich. Dieser Wandel in der Zusammensetzung des erreichbaren Publikums und die entsprechende Ausrichtung der Massenbeeinflussungsmedien haben die öffentliche Meinung einförmiger, einheitlicher, weniger wach und viel unkritischer gemacht; die Politik, die bei der Mehrheit kein erstrangiges Interesse beansprucht, ist für den Genuss der Güter des Massenverbrauchs nur von untergeordneter Bedeutung. In dem Maße, wie die Politik in eine fremdartige, schlecht übersehbare und chaotische Welt neue Anforderungen hineinträgt, löst sie defensive und betont ethnozentrische Reaktionen aus: Die Menschen sind geneigt, die Zeit, in der sie leben, und ihre situationsbedingten Institutionen als allgemeingültige Vorbilder anzusehen. Der im Innern Abweichende und der potentielle äußere Feind erscheinen ihnen gleichermaßen als Todfeinde des Menschengeschlechts.

      4. Aus vielfältigen Gründen, die mit den traditionellen Gesellschaftsstrukturen und gesellschaftlichen Gegensätzen und mit der Verschiedenheit der erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe zusammenhängen, haben sich Ideologien des 19. Jahrhunderts nicht nur in gewissem Umfang erhalten (so in Italien, in Griechenland und – weniger stark – in Frankreich), sondern auch mit den neuen, im Weltmaßstab ausgetragenen ideologischen Gegensätzen verflochten und verfilzt. Das hat die Herausbildung einer allgemeingültigen und allenthalben akzeptierten Meinung vereitelt und innerhalb der einzelnen Staatsgebilde zu einer politischen Polarisierung geführt, die nur durch die allgemeine Entpolitisierungstendenz der heutigen Massengesellschaft gemildert wird.

      Wie beeinflusst dieser Wandel die Teilnahme der Justiz am politischen Geschehen im nationalen Rahmen? Die De-facto-Überwachung der potentiell feindlichen Elemente und ihre angestrebte Isolierung werden durch formlose Polizeimaßnahmen und, was noch wichtiger ist, durch innerorganisatorische Vorkehrungen (Eigenkontrollen in Gewerkschaften, Meinungsfabriken, Parteien, Verwaltungsbehörden und mit Staatsaufträgen versehenen Betrieben und Forschungsanstalten) sichergestellt. Die Mitwirkung der Gerichte wird dabei nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. In der Regel tritt das Gericht nur noch unter bestimmten Voraussetzungen in Aktion, und zwar: a) Wenn die erfolgreiche Handhabung von Polizei- und Sicherheitsmaßnahmen formale Freiheitsbeschränkungen erfordert; b) wenn die Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen die Demarkationslinie zwischen den (gewöhnlich hinreichend wirksamen) formlosen Beschränkungen und echten Zwangsmaßnahmen überschreiten und das Opfer auf einer gerichtlichen Entscheidung besteht; c) wenn sich das herrschende Regime für eine Politik totaler Unterdrückung seiner Gegner oder für eine Ermattungsstrategie entschieden hat, die dem Gegner jede politische Betätigung durch ständige gerichtliche Verfolgung unmöglich zu machen sucht, und d) wenn sorgsam ausgewählte Ausschnitte missliebiger politischer Betätigung den Gerichten unterbreitet werden, weniger zum Zwecke effektiver Unterdrückung als zur sensationellen öffentlichen Plakatierung des Kampfes gegen den Feind, gegen den auf diese Weise die öffentliche Meinung mobilisiert werden soll.

      Das ist freilich nur ein begrenzter Katalog möglicher Anlässe zu richterlichen Handlungen im Rahmen der in der nichttotalitären Gesellschaft der Gegenwart denkbaren Unterdrückungsmaßnahmen. In welchem Maße die Gerichte mit solchen Komplexen befasst werden müssen, wird von der jeweiligen innenpolitischen Situation abhängen. Die zahlreichen und vielfältigen nationalen Spielarten reichen von der extremen Weitherzigkeit Großbritanniens, bei der die Notwendigkeit gerichtlicher Entscheidungen minimal ist, bis zur weitgehenden Verbotspolitik, mit der die Bundesrepublik Deutschland der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« zuwiderlaufende Bestrebungen zu bekämpfen sucht.

      Angesichts der drastischen Veränderungen in den Arbeitsbedingungen der Gerichte und zugleich auch in der Struktur des nationalen Bewusstseins haben sich die Grenzen verengt, innerhalb deren die Gerichte politische Fragen entscheiden können. Aber aus denselben Gründen ist die mögliche Wirkung ihrer Entscheidungen größer geworden. Abgesehen von der Möglichkeit der Authentifizierung staatlichen Tuns (die eben darum geschrumpft sein mag), sind die Gerichte zu einer neuen Dimension der Politik geworden, die verschiedenen Typen von politischen Ordnungen, aber auch ihren Gegnern, als Medium dient, ihre Politik zu proklamieren und die Bevölkerung an ihre politischen Ziele zu binden.

      Im 19. Jahrhundert, als die Massenorganisationen erst begannen, profitierten viel eher die Freunde und Anhänger des Angeklagten als die Staatsgewalt von der Chance, im Gerichtssaal günstige Symbolbilder zu prägen und ihrer Propaganda damit einen neuen Auftrieb gerade dann zu geben, wenn sie zusätzlicher Impulse dringend bedurfte. Und oft genug waren die Behörden heilfroh, wenn es ihnen gelang, einen politischen Fall so durchs Gericht zu manövrieren, dass aus ihm keine neue gegnerische Agitationskampagne entstand. Des Angeklagten propagandistisches Talent und journalistische Zündkraft waren häufig gefährlicher als seine mäßige organisatorische Leistung. Feargus O’Connors Northern Star beim Prozess gegen Jack Frost im Jahre 1840, Armand Carrels National bei den Pairskammerverhandlungen gegen die Aufständischen von 1834, Karl Marx’ ätzende Kommentare zum Kölner Kommunistenprozess von 1852 konnten die Augenblicksniederlage im Gerichtssaal in einen moralischen Sieg ummünzen, der seine Wirkung auf das Publikum nicht verfehlte.

      In der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts bedrohen den nichttotalitären Staat und seine Organe die langfristigen Auswirkungen einer absinkenden öffentlichen Moral und der

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