Die Residentur. Iva Prochazkova

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Die Residentur - Iva Prochazkova

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„Wir treffen uns dann hier.“

      Draußen wehte ein kalter Wind, an Deck waren ein paar vereinzelte Passagiere. Richard ging zwischen ihnen hindurch Richtung Heck. An der Passage von Odessa nach Jeremesch bestand bei Weitem nicht so großes Interesse wie an der in die Gegenrichtung. Heutzutage flohen die Menschen aus Kasmenien; früher fuhren sie dorthin in Urlaub, um die schöne Natur zu erleben, im Hochgebirge wandern zu gehen oder uralte Kulturdenkmäler zu besichtigen. In letzter Zeit war niemand scharf auf dieses Reiseziel. Es war eine Überfahrt gegen den Strom.

      Lewan stand an der Reling und telefonierte mit angespannter Miene. Genauso wie damals, als … Richard kam der Samstagmorgen im September plötzlich in allen Details wieder ins Gedächtnis zurück. Er hatte verschlafen und war leicht verspätet an der Sporthalle eingetroffen, wo sie immer Basketball trainieren gingen. Martin, Adam und die anderen waren schon da. Sie standen am Eingang herum und Richard sah ihnen ihre Aufregung an. Lewan drehte sein Handydisplay zu ihm hin. Kasmenischer Journalist Arojan heute Nacht in Prager Außenbezirk erschossen, meldete die Überschrift. Richard blickte in Geworgs markantes Gesicht und in seinem Kopf lief im Verlauf von wenigen Sekunden ihre ganze Freundschaft ab wie ein Film. Vom ersten Zweikampf um den Ball unterm Korb hier in der Halle über die Debatten in der Küche von Lewans Mutter bei frisch gebackenem Chatschapuri oder in Geworgs kleiner Wohnung (die gleichzeitig als Redaktion und Aufnahmestudio diente) bis zu dem Moment, als Richard seinen ersten Text mitbrachte. Er war stilistisch holprig gewesen und unnötig aggressiv, aber Geworg hatte nur gesagt: „Beim nächsten Mal besser formulieren und weniger um dich beißen, du Haifisch“, und dann den Beitrag unverändert auf seinem Portal veröffentlicht. Seit dem Tag hatte Richard ihm unter dem Pseudonym RiShark zig weitere geliefert. Als er an jenem Vormittag vor der Sporthalle die Abbildung von Geworg angesehen hatte, hatte er direkt körperlich gespürt, wie es sein eigenes Leben aus den Angeln hob.

      Er ging bis ans Heck der Fähre und griff zum Telefon. Es war Zeit, Veronika anzurufen. Er hatte vorgehabt, ihr schon im Hafen eine Nachricht zu schicken, aber aus Aberglauben hatte er es immer wieder verschoben. Bis wir an Bord sind, bis wir ablegen, bis sicher ist, dass uns nichts mehr aufhalten kann, hatte er sich gesagt. Jetzt, mit Blick auf die dunklen Wassermassen tief unter sich, spürte er diese Sicherheit. Er rauchte fertig, schnippte die Kippe über die Reling, und während das Telefon schon Veronikas Nummer wählte, stieg er die hintere Treppe zum Oberdeck hinauf. Es war leer, hier war der Wind noch stärker als unten.

      Veronika ging nach dem ersten Läuten ran. „Und wie steht’s?“, stieß sie hervor.

      „Gut steht’s.“ Der Wind pfiff ihm um die Ohren, er konnte sich kaum selber hören. „Wir sind auf der Fähre.“

      „Wie war …“ Er konnte sich denken, dass sie nach dem bisherigen Verlauf der Reise fragte.

      „Bis jetzt läuft alles glatt. Wie sieht’s bei euch aus?“

      „Die Formánková hat Adam in die Mangel genommen. Bis jetzt hat er sich nicht verquatscht – behauptet er zumindest.“

      „Und Mama?“ Normalerweise benutzte er diesen Ausdruck sozusagen in Anführungszeichen. Bei „Mama“ musste man ein Auge zudrücken, „Mama“ machte sich übertriebene Sorgen, für „Mama“ war er immer noch ein Küken, über das sie ihre schützenden Flügel ausbreitete. „Mama“, sagte er zu ihr oft mit einer Mischung aus Liebe und Ironie, wenn sie grundlos in Panik verfiel. „Mama, immer schön ruhig bleiben, okay? Einfach mal tief durchatmen.“ Jetzt war von Ironie in seiner Stimme keine Spur mehr. Geblieben war nur die Liebe und das Bedürfnis, das Wort laut auszusprechen.

      „Zuerst hat sie mich angerufen und dann ist sie zu mir ins Theater gekommen. Ein bisschen …“ Veronika zögerte.

      „Was?“

      „Sie war echt runter mit den Nerven.“

      „Hat sie geheult?“

      „Fast. Sie hat mir erklärt, dass Abhauen zu nichts führt. Ich hab ihr erklärt, dass du nicht abgehauen bist, dass du dir nur über was klar werden willst und dich bei ihr meldest. Machst du das?“

      „Mal sehn.“ Sie würde am Telefon weinen und versuchen, ihn zu überreden. Schon von ihren Emojis war ihm ganz blümerant, Tränen und Bitten würde er nicht ertragen. „Ich meld mich bei ihr, wenn wir in Gregoripol sind.“

      „Und das ist wann?“

      „Nicht so schnell, wie wir dachten.“ Über die sich ausdehnende Frontlinie und über Bombardierungen wollte er mit Veronika nicht reden. Bis jetzt war sie zwar ziemlich cool gewesen, aber er wollte nicht sondieren, wie belastbar die äußere Hülle ihrer Coolness war.

      „Und die Briefe“, fragte sie. „Wann soll ich die verteilen?“

      „Weiß nicht, das muss ich noch mit den Jungs diskutieren. Ich schick dir ’ne Nachricht.“

      „Schick mir ’n Selfie.“

      „Nein.“

      „Warum denn nicht?“

      „Das Thema hatten wir doch schon.“ Die Abmachung war klar und alle hatten eingewilligt: ein Minimum an Telefonaten, keine Videos, keine Fotos. Schon Nikola, ein Basketballkumpel, der in gewisser Weise ihre Vorhut war und ihnen eine Menge wertvolle Tipps gegeben hatte, hatte sie gewarnt, dass man aus unschuldigen Selfies eine ganze Menge Informationen rauslesen konnte, und Informationen konnten missbraucht werden, man musste auf sie aufpassen. Auch mit Nachrichten wäre bald Schluss. Lewans Onkel Erasim hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass bei einigen Einheiten Handys verboten waren und dass in vielen Hochtälern überhaupt kein Empfang war. Davon hatte Richard Veronika nichts erzählt. Er wollte sie nicht unter Stress setzen. Sie stammte aus einer Familie von Theaterleuten, ihr Horizont und ihre Emotionalität waren definiert von den Brettern, die die Welt bedeuteten. Am eigenen Leib hatte sie wenig erfahren, aber sie hatte alles bereits auf der Bühne gesehen. Richard hatte sie unter Verdacht, dass sie sich den Krieg wie eine Inszenierung vorstellte – wem’s nicht gefiele, der könnte sich in der Pause seine Sachen schnappen und nach Hause gehen.

      „Fotos sind ein Risiko“, erinnerte er sie.

      „Zugvögel auch?“

      Ehe er fragen konnte, wie sie das gemeint hatte, meldete sein Handy schon eine neue Nachricht.

      „Ich hab das Gefühl, dass sie schon bei dir gelandet ist“, sagte Veronika. „Willst du nicht nachsehen?“

      Er sah nach. Und sein Puls beschleunigte sich. Der Anblick der Schwalbe, die sich Veronika auf den Nacken tätowieren lassen hatte, rief die unmittelbare Erinnerung an ihre letzte gemeinsame Nacht hervor. An einige Momente, die für ihn (und er glaubte, dass das auch für sie galt) die Entdeckung neuer Welten bedeutet hatten. Sie waren so fantastisch gewesen, dass er seine bevorstehende Abreise kurz bereut hatte.

      „Ist sie eingetrudelt?“

      „Sie ist da.“

      „Schwalben sind treu, aber eifersüchtig“, ermahnte sie ihn. „Also sei auf der Hut!“

      „Du auch“, zickte er zurück. Mit gespieltem Misstrauen fügte er hinzu: „Wo bist du überhaupt, was machst du dort, und wer macht mit?“

      Sein Verhör amüsierte sie. „Ich steh vorm Theater an der Haltestelle und wart auf meine Bahn. Außer mir sind ’n paar Touris hier, die starren in ihre Handys und wollen den Weg zum Vyšehrad erklärt haben. Willst du’s ihnen

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