Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar. Georg W. Bertram

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Hegels

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der sinnlichen Gewissheit machen nun Hegel zufolge die bereits angesprochene Bewegung zwischen unterschiedlichen Realisierungen dieser Konzeption verständlich. Da die einfache demonstrative Beziehung auf äußere Gegenstände kein konkretes Wissen zutage fördert, kann man dieses konkrete Wissen im bewussten Subjekt suchen wollen. Die einfachen Wahrnehmungszustände dieses Subjekts sind gute Kandidaten für etwas, von dem man durch direkten Kontakt Wissen haben kann. In Hegels Worten: »Die Kraft ihrer [der sinnlichen Gewissheit] Wahrheit liegt also nun im Ich, in der Unmittelbarkeit meines Sehens, Hörens, und so fort […].« (89/86)

      In der damit variierten Konzeption treten jedoch aufs Neue die Widersprüche auf, die wir bereits kennengelernt haben. Sie realisieren sich hier durch den Bezug auf das wahrnehmende Ich. Das Ich ist die Bestimmung, die festgehalten wird, wenn man unmittelbar auf das eigene Wahrnehmen Bezug nimmt. Dies können wir mit dem Begriff eines (kognitiv verstandenen28) Selbstgefühls erläutern: Das Wissen, das ich direkt durch mein Wahrnehmen habe, kommt durch dieses Selbstgefühl zustande. Ein solches Selbstgefühl habe ich unabhängig davon, ob ich gerade sehe oder höre oder ob ich ein Haus sehe oder Buchstaben auf Papier. Jeweils weiß ich um das eigene Wahrnehmen aufgrund des Selbstgefühls, das ich habe. Aus diesem Grund weiß ich nicht ein spezifisches Sehen oder Hören oder etwas Ähnliches, sondern ich weiß mein allgemeines Ich, das sich über alle Unterschiede solcher spezifischen Formen der Wahrnehmung hinweg durchhält – als ein jeweiliges Beispiel von Ich-Sein. Damit zeigen sich erneut die beiden Widersprüche, die wir bereits geklärt haben: Das Wissen ist nicht konkret, und es kommt nicht unmittelbar, also ohne Negationen zustande.

      Die Widersprüche, die auch in dieser zweiten Form der Wissenskonzeption der sinnlichen Gewissheit auftreten, motivieren ihrerseits aus Hegels Perspektive noch eine dritte Form, in der das Wissen weder auf Seiten des Gegenstands noch auf Seiten des Ichs, sondern in einer Verbindung beider Seiten gesucht wird. »Wir kommen hiedurch dahin, das Ganze der sinnlichen Gewissheit selbst als ihr Wesen zu setzen […].« (90/87) Dieser Form gemäß hat ein einfaches Wissen immer die Form »Ich Jetzt Tag« oder »Ich Hier Baum«. Gewusst wird immer der einzelne Zusammenhang, der zwischen einem wahrnehmenden Bewusstsein und einem bestimmten von diesem Bewusstsein wahrgenommenen Gegenstand besteht. Der Zusammenhang ist jeweils ein anderer, so dass der Eindruck entsteht, die sinnliche Gewissheit könne in dieser Art und Weise ihren Anspruch auf Konkretheit doch noch realisieren.

      Wir haben damit hier eine Form der Wissenskonzeption vor uns, die ihre Widersprüche nicht so einfach offenbart wie die anderen beiden schon betrachteten Formen. Aus diesem Grund sagt Hegel, dass er sich die Spezifik des jeweiligen Zusammenhangs zeigen lassen will. Er will erläutern, wie aus der Perspektive der Bewusstseinsgestalt die Spezifik des jeweils Gewussten zustande kommt. Er kommentiert wieder die Struktur des einfachen zeitlichen indexikalischen Ausdrucks »jetzt« und legt wiederum dar, dass es sich um etwas Allgemeines handelt. Auch wenn die sinnliche Gewissheit immer spezifische Zusammenhänge des direkten Bezugs von Subjekten auf Gegenstände als Ganze fasst, kann sie die Spezifik dieser Zusammenhänge nur dadurch klären, dass sie zum Beispiel ein Jetzt, in dem ein spezifischer Zusammenhang besteht, als unterschieden von anderen Jetzt, in denen andere entsprechende Zusammenhänge bestehen, zur Geltung bringt. Das aber bedeutet, dass sich von neuem die alten Widersprüche ergeben. Das Wissen ist nicht konkret, sondern abstrakt; und es kommt nicht unmittelbar, sondern aus Beziehungen zu anderem heraus zustande.

      Das grundlegende Problem von Konzeptionen, die den direkten Kontakt als Basis des primären und allerkonkretesten Wissens zu fassen suchen, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Ein direkter Kontakt führt nur insofern zu Wissen, als er sich von anderen Momenten direkten Kontakts unterscheidet. So ist die Konzeption nicht, was sie ihrem Anspruch nach zu sein verspricht: Sie erklärt Wissen nicht als ein solches, das allein vom Gegenstand selbst ausgeht und das dabei darauf beruht, dass dieser sich direkt dem Bewusstsein offenbart. Vielmehr erklärt sie Wissen durch die Unterscheidungsleistungen, die das Bewusstsein vornimmt, wenn es zum Beispiel unterschiedliche Momente des Jetzt voneinander trennt.

      Hegels These lautet somit, dass die Konzeption der sinnlichen Gewissheit von einer grundsätzlich falschen Idee dessen ausgeht, was Wissen ist. Wissen kommt dieser falschen Idee zufolge dort zustande, wo das Bewusstsein sich enthält, wo es die Welt bloß aufnimmt, wie sie ist. Das Gegenteil aber ist, wie sich ansatzweise in den Widersprüchen der Konzeption bereits gezeigt hat, der Fall: Wissen kommt nur dadurch zustande, dass das Bewusstsein – zum Beispiel durch Akte des Unterscheidens – auch aktiv wird, indem es in die Welt eingreift. Das gilt auch für Erfahrungen: Erfahrungen kann man nicht dadurch machen, dass man die Welt einfach auf sich wirken lässt. Sie erfordern immer auch Tätigkeit. Erst dort, wo man Gegenstände negiert – und dies zum Beispiel dadurch, dass man sie zu anderen Gegenständen in Beziehung setzt und dadurch von anderen Gegenständen unterscheidet –, kann man zu Wissen gelangen.

      Dies wird auch in den Bewegungen zwischen den unterschiedlichen Realisierungen der sinnlichen Gewissheit indirekt deutlich: Auch wenn die Konzeption nicht selbst ihre Widersprüche bemerkt, so gehen die unterschiedlichen Realisierungen (vom direkten Gegenstandskontakt zum direkten Selbstkontakt, zum direkten Kontakt zu einem Gegenstand-Bewusstsein-Konglomerat) doch aus einer Aktivität des Bewusstseins hervor. Das Bewusstsein reagiert auf die Widersprüche in der Realisierung seines Anspruchs, indem es erste Realisierungen negiert. Schon in frühesten kulturellen Praktiken ist, so Hegel in einer unnachahmlichen Polemik, die Bedeutung der Negation, die hier am Beispiel des Verzehrs illustriert ist, für die menschliche Auseinandersetzung mit der Welt reflektiert worden:

      In dieser Rücksicht kann denjenigen, welche jene Wahrheit und Gewissheit der Realität der sinnlichen Gegenstände behaupten, gesagt werden, dass sie in die unterste Schule der Weisheit, nämlich in die alten Eleusischen Mysterien der Ceres und des Bacchus zurückzuweisen sind, und das Geheimnis des Essens des Brotes und des Trinkens des Weines erst zu lernen haben […]. (94/91)

      II. Die Wahrnehmung oder das Ding und die Täuschung

      Die Widersprüche, die sich in der Wissenskonzeption der sinnlichen Gewissheit zeigen, werden von einer Wissenskonzeption aufgehoben, die Hegel als Wahrnehmung bezeichnet. Die Grundidee dieser Konzeption besagt, dass Wissen durch ein wahrnehmendes Erfassen von Eigenschaften an Gegenständen zustande kommt. Anders als die sinnliche Gewissheit wird damit dezidiert der Anspruch verfolgt, Wissen aufgrund von Allgemeinbestimmungen (im Sinne von Eigenschaften) zu gewinnen.

      In der Diskussion des vorigen Abschnitts hatte sich gezeigt, dass die dort verfolgte Wissenskonzeption entgegen ihrem Anspruch, das konkrete Einzelne durch einen unmittelbaren Bezug auf den Gegenstand zu wissen, nur abstrakte Allgemeinheiten weiß. Die Wahrnehmung hebt diesen Widerspruch auf, indem sie ihn für den Begriff des Wissens fruchtbar macht: Allgemeinbestimmungen sollen es ermöglichen, Einzelgegenstände in ihrer Konkretheit zu wissen.

      Hegels Erläuterung der entsprechenden Wissenskonzeption gliedert sich in drei Teile:

      1 In einem ersten Teil wird die Wissenskonzeption in ihren Grundzügen entfaltet (96–100/93–97):

      2 In einem zweiten Teil werden die Widersprüche der Konzeption in den unterschiedlichen Formen, in denen sie im Rahmen der Konzeption entwickelt werden können, verfolgt (100–107/97–103).

      3 Ein dritter Teil resümiert schließlich diese Widersprüche und gibt einen Ausblick auf das Folgende (107–111/103–107).

      Die Einleitung beleuchtet die zentralen Aspekte, die für die Wissenskonzeption relevant sind. Dabei lassen sich fünf solcher Aspekte unterscheiden:

      1 Anspruch der Konzeption ist es zu erklären, wie man sich auf einen spezifischen Gegenstand wissend beziehen kann. In diesem Anspruch hält die Wahrnehmung an dem in der sinnlichen Gewissheit erhobenen Anspruch fest, die Welt in ihrer Konkretheit zu wissen. Entsprechend charakterisiert Hegel die Wahrnehmung, indem er sagt: »[Ihr] Kriterium der

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