Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar. Georg W. Bertram

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Hegels

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dahingehend auf, dass sie (a) diese alten Bestimmungen überwindet, dass sie (b) diese alten Bestimmungen dabei zugleich bewahrt und dabei (c) eine neue Ebene begründet. Aufhebung ist ein in diesem Sinne jeweils dreifaches Geschehen – und Dialektik eine Theorie der Produktivität der Widersprüche.

      Hegels Begriff der Erfahrung ist im Rahmen dieser Theorie zu verstehen. Erfahrung kommt demnach dadurch zustande, dass die theoretischen Begriffe, in denen Menschen ihr Wissen artikulieren und somit Wissen von ihrem Wissen haben, sich weiterentwickeln. Wer im Sinne Hegels Erfahrungen macht, entwickelt sich in seinem Wissen über sich und damit über die Welt weiter. Er verändert damit sein Wissen über sich und über die Welt. Man kann sagen, dass Hegel somit Erfahrung als Realisierung von Selbstkritik (in dem oben erläuterten Sinn) versteht. Er vertritt damit einen anspruchsvollen Begriff von Erfahrung, dem zufolge nicht ein bloßer Erwerb von Wissen, sondern eine kritische Reflexion von Wissen Erfahrung ausmacht. Aus einer solchen Reflexion resultiert dabei nicht »ein leeres Nichts« (83/80), sondern kommt ein spezifisches neues Wissen über das eigene Wissen zustande: also eine neue Wissenskonzeption (im Kapitel zum absoluten Wissen wird sich zeigen, dass sich eine Veränderung von Wissenskonzeptionen durchaus auch als ein Aspekt einer Auseinandersetzung mit Gegenständen in der Welt verstehen lässt).

      Hier wird noch einmal deutlich, inwiefern Hegels »sich vollbringender Skeptizismus« sich von einem substantiellen Skeptizismus unterscheidet. Letzterer behauptet eine Unmöglichkeit von Wissen. Nach gängigem Verständnis formuliert er gerade in seiner neuzeitlichen Variante skeptische Hypothesen (zum Beispiel im Sinne der Frage: »Kannst du aus deiner Bewusstseinsperspektive heraus ausschließen, ein Gehirn im Tank zu sein, das in raffinierter Art und Weise zu den Bewusstseinseindrücken stimuliert wird, die du hast?«) und macht geltend, dass diese Hypothesen nicht ausgeschlossen werden können. Solange dies aber so ist, gebe es, streng genommen, kein Wissen. Hegels dialektische Widersprüche, die den Prozess der Erfahrung vorantreiben, funktionieren jedoch nicht wie skeptische Hypothesen. Sein Skeptizismus ist vielmehr der Prozess, in dem immer mehr Bestimmungen, die wir für feststehend zu halten geneigt sind, sich als für sich genommen unhaltbar erweisen, so dass ein komplexerer begrifflicher Horizont gewonnen werden muss, innerhalb dessen diese Bestimmungen (in dem erläuterten Sinn) aufgehoben sind. Die Unhaltbarkeit der Bestimmungen führt nicht zu ihrer bloßen Negation. Sie führt vielmehr zu einer Weiterentwicklung von Bestimmungen, in der die unhaltbaren Bestimmungen in veränderter Form weiter Bestand haben. Aus dieser Entwicklung heraus hängen alle Bestimmungen, in denen wir unser Wissen artikulieren, grundlegend zusammen.

      Hegels Begriff von Erfahrung ist dabei durchaus auch als ein kritischer Begriff zu verstehen. Kritisiert werden all diejenigen Haltungen, in denen man sich einer Selbstkritik verweigert. Wer sich mit der Welt nur deshalb auseinandersetzt, um Bestätigung für seine sowieso schon bestehenden Überzeugungen zu gewinnen, kann die für sein Verständnis von Wissen konstitutiven Zusammenhänge mit anderen Verständnissen nicht nachvollziehen und wird so gegenüber den eigenen Einseitigkeiten blind. Er verliert damit auch den Kontakt zur Welt als der Instanz, die entsprechende Einseitigkeiten immer wieder herausfordert.

      Damit haben wir die Einleitung jetzt so weit durchdrungen, dass wir uns ihrem Ende nähern können:

      Die Erfahrung, welche das Bewusstsein über sich macht, kann ihrem Begriffe nach nichts weniger in sich begreifen als das ganze System desselben, oder das ganze Reich der Wahrheit des Geistes, so dass die Momente derselben in dieser eigentümlichen Bestimmtheit sich darstellen, nicht abstrakte, reine Momente zu sein, sondern so, wie sie für das Bewusstsein sind, oder wie dieses selbst in seiner Beziehung auf sie auftritt, wodurch die Momente des Ganzen, Gestalten des Bewusstseins sind. (84/80)

      Hegel wiederholt hier noch einmal zwei zentrale Thesen, die er in der Einleitung vertritt: Die Wissenskonzeptionen, die von Menschen vertreten werden, hängen systematisch darin zusammen, dass sie jeweils den Ausschnitt eines Bildes darstellen, das sich erst durch die Entwicklung der Widersprüche, die in diesen Wissenskonzeptionen im Spiel sind, zusammensetzt. Hegel vertritt so erstens die These, dass sich aus der Entwicklung der Widersprüche ein Zusammenhang ergibt. Und er vertritt zweitens die These, dass dieser Zusammenhang ein Ziel kennt.

      Dieses Ziel wird bereits in der Einleitung mit dem berüchtigten Begriff des »absoluten Wissens« (84/81) markiert: Die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, die Wissenschaft von der erscheinenden Wissenschaft vollendet sich mit dem »absoluten Wissen«. Das klingt so, als steuere Hegel auf einen endgültigen Abschluss zu, auf eine nicht mehr zu überbietende Gestalt des Wissens. Wir haben aber gesehen, dass das Ziel der Entwicklung, die Hegel in der PhG verfolgt, ganz anders verstanden werden kann: Es handelt sich um das Ziel, an dem Wissen sich als eine in einem produktiven Sinne unsichere, grundsätzlich mit Selbstkritik verbundene Praxis durchsichtig geworden ist. Hier ist eine Wissenskonzeption erreicht, die auch die Revision der Verständnisse von Wissen als notwendigen Teil des Gewinnens von Wissen verstehen kann und die sich aus diesem Grund in allen weiteren Revisionen gerade nicht mehr verändert, sondern – wie Hegel gerne sagt – in ihnen bei sich bleibt. Diese Wissenskonzeption ist ein Abschluss, der aus sich heraus mit weiterer Entwicklung verbunden ist.

      Der systematische Ertrag

      Die Einleitung klärt vor allem, warum Hegel erstens das Projekt der Erkenntniskritik kritisiert und wie er zweitens seine eigene Philosophie als eine solche konzipiert, die dieser Kritik Rechnung trägt. Die Kritik der Erkenntniskritik ist nicht primär daraus motiviert, dass Hegel schon an diesem Punkt (der Einleitung) sicher wäre, sie für falsch halten zu können. Problematisch ist die Erkenntniskritik, wie sie besonders in der Neuzeit von Descartes bis Kant zunehmend als Selbstverständlichkeit etabliert wurde, aus Hegels Sicht, weil sie eine Reihe unbegründeter, und so ganz und gar nicht selbstverständlicher, Voraussetzungen macht. Diese Voraussetzungen haben ihren Kern in der Trennung von Subjekt und Objekt. Der Ertrag der Einleitung lässt sich entsprechend sehr knapp resümieren, indem wir sagen: Es geht ihr darum zu sagen, dass man weder den Begriff des Subjekts noch den Begriff des Objekts in zufriedenstellender Weise klären kann, wenn man ihre Trennung voraussetzt. In den Überlegungen zur immanenten Kritik von Wissenskonzeptionen haben wir aber auch gesehen, dass es Hegel nicht darum geht, einfach eine harmonische Einheit von Subjekt und Objekt zu behaupten. Er will vielmehr die Trennung beider aus ihrem Zusammenhang heraus denken.

      Entsprechend seiner Kritik an dem Projekt der Erkenntniskritik gestaltet Hegel das Vorgehen der PhG so, dass er nicht von Anfang an mit einer eigenen Position aufwartet. Ganz im Gegenteil: Er will die Wissenskonzeption, die er am Ende verteidigt, dadurch gewinnen, dass er anderen Wissenskonzeptionen in ihren Widersprüchen folgt. So steht im Zentrum der PhG nicht die eigenständige Entwicklung einer Position, die Hegel seinen Leserinnen und Lesern präsentieren würde, sondern der Nachvollzug unterschiedlicher Positionen, die er verfolgt, um aus dieser Entwicklung heraus dann die Konturen einer haltbaren Wissenskonzeption zu gewinnen – einer Wissenskonzeption also, die er sich aus einem komplexen Dialog mit anderen Konzeptionen heraus zu eigen macht. Damit zeichnet sich ein entscheidendes Moment des Verständnisses von Philosophie ab, das Hegel vertritt: Er begreift seine eigene Philosophie dezidiert als eine Philosophie unter anderen Philosophien. Aus Hegels Sicht ist es kein unglücklicher Zufall, dass es unterschiedliche Philosophien gibt, die sich in entscheidenden Punkten deutlich widersprechen. Es ist vielmehr ein Wesensmerkmal von Philosophie, dass dies tatsächlich so ist. Philosophische Erkenntnis ist an die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Philosophien gebunden.26

      Wir haben gesehen, dass sich nach Hegels Verständnis auf dem Weg zu einer haltbaren Wissenskonzeption (einer durchgeführten Wissenschaft also) die Auffassung von Gegenständen des Wissens immer wieder ändert. Damit kündigt er bereits hier schon an, dass das Buch, das den entsprechenden Weg geht, überraschende Wendungen enthalten wird. Die PhG ist nicht eine erkenntnistheoretische Abhandlung, wie es die klassischen Texte von zum Beispiel Descartes, Locke oder Kant sind. Sie bleibt nicht bei der Analyse des kognitiven Verhältnisses stehen, in dem Subjekte zu Objekten stehen. Vielmehr widmet sie sich zum Beispiel auch der intersubjektiven Konstitution von Subjekten,

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