Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar. Georg W. Bertram
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Denn das Bewusstsein ist einerseits Bewusstsein des Gegenstandes, anderseits Bewusstsein seiner selbst; Bewusstsein dessen, was ihm das Wahre ist, und Bewusstsein seines Wissens davon. (81/77)
Die Erläuterungen, mit denen Hegel die Selbstkritik von Wissenskonzeptionen in der PhG verfolgt, sind mit einem technischen Vokabular verbunden, das er bereits in den hier kommentierten Absätzen der Einleitung gebraucht. Es handelt sich um die Bezeichnungen »an sich«, »für es«, »für sich«, »für anderes« und »für uns«. Erste Erläuterungen dieser Bezeichnungen lassen sich gut auf Basis der Überlegungen zu den grundlegenden Strukturen des Bewusstseins geben.
»An sich« hat eine Bewusstseinsgestalt immer die beiden Momente, von denen bislang die Rede war, und das heißt: unabhängig davon, ob die Bewusstseinsgestalt sich von sich aus auf sie bezieht oder nicht. Wenn die Bewusstseinsgestalt sich hingegen selbst auf die Momente, die für sie wesentlich sind, bezieht, dann spricht Hegel davon, dass sie »für es« (das Bewusstsein) beziehungsweise »für sich« sind. In diesem Fall entwickelt Hegel seine Artikulationen aus der Perspektive des Bewusstseins. In anderen Fällen spricht er davon, dass »für uns« die Momente so oder so zu verstehen sind. Damit ist die Perspektive desjenigen bezeichnet, der die Entwicklung der PhG durchlaufen hat und der aus diesem Grund die jeweiligen Positionen aus dem am Ende erzielten Überblick heraus artikulieren kann. Die bislang erläuterten Bezeichnungen unterscheiden die Perspektiven, aus denen heraus die Momente einer Bewusstseinsgestalt zugänglich sind und aus denen man sich auf sie bezieht (im Sinne einer Erkenntnistheorie dieser Momente).
Die Bezeichnungen »für anderes« und korrelativ dazu auch »für sich« (in einer anderen als der eben bereits kommentierten Verwendung) beschreiben die Art und Weise, wie die Momente einer Bewusstseinsgestalt konstituiert sind (also die Ontologie der Momente). Spricht Hegel hier davon, ein Moment sei »für sich«, bedeutet dies, dass dieses Moment aus sich heraus konstituiert ist. Ist hingegen davon die Rede, ein Moment sei »für anderes«, dann ist dieses Moment nicht aus sich heraus konstituiert, sondern ist in seiner Konstitution abhängig von anderem. Hegel hält sich in seiner Analyse von Bewusstseinsgestalten streng daran, erkenntnistheoretische und ontologische Unterschiede mittels dieser Begriffe zu markieren.
Damit komme ich zum zweiten Schritt in Hegels Zurückweisung der Notwendigkeit eines externen Maßstabs, mit dem wir nachvollziehen können, inwiefern Hegel die interne Prüfung von Wissenskonzeptionen als eine immanente Kritik begreift. Aufgrund dieser Prüfung befinden sich Wissenskonzeptionen in einer Bewegung, die von Hegel folgendermaßen kommentiert wird:
Diese dialektische Bewegung, welche das Bewusstsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird. (82/78)
Ich habe oben schon bemerkt, dass diese Thesen Hegels erst einmal sehr irritierend sind. Geht es um Wissen, begreifen wir mögliche Anpassungen unserer Überzeugungen nicht so, dass sich mit unseren Überzeugungen auch die Gegenstände unserer Überzeugungen ändern. Normalerweise gehen wir vielmehr davon aus, dass Gegenstände bei einer Änderung unserer Wissensansprüche gleich bleiben. Hegel kann schlecht so verstanden werden, dass er an dieser Trivialität uneingeschränkt rütteln will.22 Stellen wir aber in Rechnung, dass es Hegel darum geht, ein angemessenes Wissen vom Wissen zu begründen und dass er aus diesem Grund Wissenskonzeptionen durchgeht, kann man ihm erst einmal den folgenden Gedanken zuschreiben: Mit jeder Veränderung von Wissenskonzeptionen kommen auch neue Gegenstandsauffassungen zustande. Wissenskonzeptionen haben unterschiedliche Auffassungen davon, was Gegenstände des Wissens sind. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich von Wissenskonzeption zu Wissenskonzeption das, was als Gegenstand gilt, ändert. Hegels These hat damit einen klaren Sinn: Sie besagt, dass jeweils mit einer neuen Wissenskonzeption auch eine neue Gegenstandsauffassung zustande kommt.
Dabei entstehen Gegenstandsauffassungen nicht einfach so neu. Die neuen Gegenstandsauffassungen reflektieren vielmehr die Probleme, die sich in alten Gegenstandsauffassungen ergeben haben. Gegenstandsauffassungen entwickeln sich auseinander. In diesem Sinn sagt Hegel: »Dieser neue Gegenstand enthält die Nichtigkeit des ersten, er ist die über ihn gemachte Erfahrung.« (82/79)
Die Veränderung von Wissenskonzeptionen und damit von Gegenstandsauffassungen ist aber nicht nur eine theoretische, abstrakte Angelegenheit. Mit Gegenstandsauffassungen verändern sich vielmehr auch die Gegenstände selbst. Insofern rüttelt Hegel durchaus an der Einschätzung, Gegenstände seien einfach aus sich heraus als Gegenstände des Wissens zu verstehen. Für unser Wissen von Gegenständen sind Gegenstandsauffassungen grundlegend. Mit Letzteren also verändern sich durchaus auch die Gegenstände, von denen wir Wissen zu erlangen suchen.
Der Erfahrungsbegriff, den Hegel auch in dieser These verwendet, scheint der Interpretation, die ich bislang entwickelt habe, zu widersprechen. Ist Erfahrung nicht das, was sich in Auseinandersetzung mit einzelnen Gegenständen vollzieht? Von Erfahrung reden wir doch normalerweise dann, wenn wir lernen, dass Herdplatten heiß sein können oder dass es in Kollegien zu unüberbrückbaren Spannungen kommen kann. Erfahrungen sind in diesem Sinn empirisch: Sie resultieren aus unserer Konfrontation mit Sachverhalten in der Welt.
Es ist wichtig zu erkennen, dass Hegel Erfahrung primär jedoch nicht in dieser Weise versteht. Erfahrung ist für ihn daran gebunden, dass Wissen sich verändert. Eine Veränderung des Wissens aber vollzieht sich dadurch, dass unser Wissen vom Wissen eine neue Gestalt annimmt. Erst dadurch können wir den bloßen Anschein von Veränderung (»ein trockenes Versichern«) von einer echten Veränderung unterscheiden. Erfahrung ist insofern aus Hegels Sicht immer an die Widersprüche gebunden, die sich in Wissenskonzeptionen ergeben. Sie resultiert nicht aus der Konfrontation mit bloßen Gegenständen, sondern daraus, dass Wissensansprüche sich an den in Gegenstandsauffassungen gegebenen Gegenständen nicht bewähren. Erfahrung setzt insofern die Spannung voraus, die nach Hegels Verständnis alles Bewusstsein ausmacht. Sie ist – um es kurz zu sagen – nicht empirisch, sondern dialektisch-spekulativ.23
Die Widersprüche, auf denen die dialektisch-spekulative Struktur der Erfahrung beruht, sind dabei nicht einfache Widersprüche, die sich leicht ausräumen lassen (in dem Sinne, dass wir einfach eine der Thesen, die im Widerspruch zueinander stehen, fallenlassen), sondern es handelt sich um Widersprüche, die uns gerade aufgrund ihrer gewissen Unlösbarkeit (es wird noch zu klären sein, inwiefern hier von einer »gewissen Unlösbarkeit« die Rede ist) zu einer Weiterentwicklung unseres Denkens veranlassen.24 Erfahrungen führen so dazu, dass wir unsere Begriffe verändern; sie greifen in unser Denken ein. Wenn ich mit Hegel davon spreche, dass Erfahrung damit dialektisch bestimmt ist, heißt dies: Erfahrung ist der Prozess immanenter Kritik, in dem sich aus einem Widerspruch von zwei für uns grundlegenden Verständnissen ein neues Verständnis ergibt, in dem dieser Widerspruch auf eine neue Ebene gehoben wird.
Um ein Beispiel zu geben: Wir machen eine Erfahrung, wenn wir erkennen, dass die Bestimmungen des Menschen als eines Sinnenwesens und eines geistigen Wesens sich widersprechen, und aus dieser Einsicht heraus eine neue Konzeption des Menschen entwickeln, zum Beispiel die Konzeption des Menschen als eines unbestimmten Wesens, eines »nicht festgestellten Tiers«, wie Nietzsche sagt.25 Hegel spricht oft davon, dass wir die widersprüchlichen Bestimmungen in der neuen Bestimmung aufheben. Der Begriff der Aufhebung wird immer wieder als einer der zentralen methodischen Begriffe von Hegels Philosophie angesehen. Zwar spielt dieser Begriff in der PhG keine besonders prominente Rolle. Man kann ihn aber heranziehen, um das Verständnis der immanenten Kritik, das die PhG