Genderismus. Birgit Kelle
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„Der Konstruktivismus lehrt, dass wir die Wirklichkeit niemals als das erkennen können, was sie wirklich ist.“ 30 Zunächst ist der Konstruktivismus für die Gender-Wissenschaft offensichtlich eine nicht hinterfragbare Prämisse und somit unwissenschaftlich. Aber es gibt einen wahren Kern in der Aussage. „Die Physik ist nicht die Beschreibung der Natur, sondern vielmehr nur die Beschreibung unserer Vorstellung von der Natur.“ Diese Aussage von Nils Bohr31 wird von Carl-Friedrich von Weizsäcker noch verschärft: „Die rationale Physik sieht … nur die Oberfläche der Wirklichkeit, die Physik erklärt nicht die Geheimnisse der Natur, sie führt sie auf tiefer liegende Geheimnisse zurück.“32 Tatsächlich werden wir nie herausfinden, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.
Aber wenn wir heute die meisten Krankheiten medikamentös behandeln und über Kontinente hinweg kommunizieren können; wenn sich ein viele Tonnen schwerer Jumbo in die Luft erhebt oder unsere Raumsonden auf dem Mond, dem Mars und sogar auf einem Kometen landen, dann belegt das wohl eindrucksvoll, dass wir zumindest die Oberfläche der Wirklichkeit, die uns ja unmittelbar betrifft, hinreichend genau beschreiben können. Donna Haraway´s zweites Argument lautet:
„Geltende Theorien wurden bisher nur nicht falsifiziert. Wenn überhaupt, dann wissen wir nur sicher, was Wirklichkeit nicht ist.“ 33 Auch dieser Einwand ist im Prinzip richtig: Alle unsere mathematischen Modelle der Wirklichkeit müssen sich im Experiment bewähren. Aber noch so viele Bestätigungen machen eine Theorie nicht zur Wahrheit, sie kann nur falsifiziert werden. Insofern wissen wir tatsächlich nur sicher, was die Wirklichkeit nicht ist.
Aber die großen Theorien wie Newtons Mechanik wurden nicht „falsifiziert“, sondern eingeschränkt auf den Geltungsbereich, in dem sie angewandt werden können. Im „Alltagsgebrauch“ funktioniert Newtons Mechanik wunderbar. Sie versagt erst bei Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit und im atomaren Bereich. Hier greifen umfassendere Theorien wie die Relativitätstheorie bzw. die Quantenmechanik. Donna Haraways erste beide Einwände sind also prinzipiell richtig, aber praktisch irrelevant. Ihr drittes Argument lautet:
„Wissen von Forschenden kann nur in Bezug auf deren politische Position gebildet werden.“ 34 Das heißt: Der Wissenschaftler sieht die Welt durch die Brille seiner politischen Einstellung. Damit ist jede Wissenschaft letztlich Ideologie. Dann allerdings wäre auch Haraways Wissenschaft nur Ideologie. Die Schwierigkeit für Donna Haraway ist also, einerseits die Objektivitätsansprüche der Wissenschaft zu dekonstruieren, aber andererseits den eigenen Objektivitätsanspruch aufrechtzuerhalten. Deshalb ist für sie ein neuer Objektivitätsbegriff notwendig. Ihr Vorschlag: „Unterworfene Standpunkte werden bevorzugt, weil sie angemessenere, nachhaltigere, objektivere, transformierendere Darstellungen der Welt zu versprechen scheinen.“ 35
Donna Haraway argumentiert in ihren Begriffen im Sinne der „kritischen Theorie“. Die entstand aus der Forderung von Karl Marx, dass wahre Philosophie nicht über die Welt nachdenken, sondern sie verändern solle. Die „kritische Theorie“ ist nicht, wie die Naturwissenschaft, vom Interesse an Objektivität und Wahrheit geleitet, sondern ihr Ziel ist die Veränderung der bestehenden Gesellschaft. Objektiver Wissenschaft darf weder ein Dogma noch ein Konsens vorgeschaltet werden, sondern es muss methodisch korrekt geforscht werden, und diese Forschung muss ergebnisoffen sein. Gender-Theorien sind also keine Naturwissenschaft, sondern Handlungskonzepte zur Veränderung der Welt.
Dass sich Donna Haraway ihrer Sache keineswegs sicher ist, offenbart sie mit der Sentenz „zu versprechen scheinen.“ Was also, wenn das Versprechen nicht hält und der Schein trügt? Mit welchem Kriterium könnte man eine solche Theorie verifizieren oder falsifizieren? Wer bestimmt, was der „richtige“ Standpunkt ist? Man muss schon sehr naiv sein zu glauben, dass „die Unterworfenen“ jemals die Deutungshoheit über die „richtige Weltanschauung“ hatten. Erinnern wir uns: Aristoteles hatte behauptet, dass ein schwerer Stein schneller fällt als ein leichter. Das wurde 1500 Jahre so geglaubt, weil die Autorität Aristoteles´ so übermächtig war, dass niemand es wagte, seine Aussagen anzuzweifeln. Erst Galileo Galilei bewies durch seine Experimente, dass beide gleich schnell fallen. Erstmals hatte die Menschheit mit der empirischen Wissenschaft eine Methode gefunden, die Wirklichkeit unabhängig von einer „richtigen“ Weltanschauung oder der Autorität eines Forschers zu beschreiben. Galilei, Newton oder Einstein haben Ihre Forschung bestimmt nicht aus dem „unterworfenen Standpunkt“ betrieben. Wären ihre Erkenntnisse besser oder anders, wenn sie mit einer anderen politischen Einstellung gefunden worden wären?
Mit der Gender-Wissenschaft fällt die Menschheit endgültig in das vorwissenschaftliche Zeitalter zurück, nachdem wir schon auf diesem Weg sind, seit das materialistische Weltbild zur maßgeblichen Weltanschauung mutierte. Heute entscheidet in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen die „richtige“ Weltanschauung darüber, wer auf einen Lehrstuhl berufen wird. Wer es wagte, die Evolutionslehre Darwins oder die anthropogene Klimaerwärmung in Zweifel zu ziehen, wird sicher nicht auf einen Lehrstuhl berufen. Und Forschungsgelder erhält nur, wessen Projekte den politischen Mainstream nicht in Frage stellen. So wurde beispielsweise die Forschung über die Ursachen von Homosexualität vollständig eingestellt. Das Absurdeste ist, dass an den Universitäten inzwischen etwa 200 Lehrstühle für Gender Studies eingerichtet wurden, deren erklärtes Ziel es ist, die Wissenschaft zu dekonstruieren.
5. Der große Irrtum
Natürlich kann man sich eine passende Wirklichkeit konstruieren, aber das ändert an der real existierenden nichts. Doch es hat dramatische Folgen für unsere Zukunft. So schrieb Konrad Lorenz 1982 in Voraussicht der Gender-Ideologie: „Der Irrglaube, dass man aus dem Menschen … schlechterdings alles machen kann, liegt den vielen Todsünden zugrunde, welche die zivilisierte Menschheit gegen die Natur des Menschen begeht. Es muss übelste Auswirkungen haben, wenn eine weltumfassende Ideologie samt der sich daraus ergebenden Politik auf einer Lüge begründet ist.“ 36 Da der Sozialismus von einem unrealistischen Menschenbild ausging, musste er an diesem Grundirrtum immer wieder scheitern: „Die schlichte ….. Wahrheit ist, dass der „eigentliche Mensch“ seit je da war – in seinen Höhen und Tiefen, in seiner Größe und Erbärmlichkeit, seinem Glück und seiner Qual, seiner Rechtfertigung und seiner Schuld. Der Irrtum der Utopie ist also ein Irrtum der Auffassung vom Wesen des Menschen.“37
Das falsche Menschenbild beginnt mit der Illusion, dass der Mensch frei wäre. Sigmund Freud hat wiederentdeckt, was Paulus schon im 7. Kapitel des Römerbriefes beschrieben hatte: Dass der Mensch eben nicht Herr im eigenen Hause ist. Aber diese zentrale Erkenntnis wollen die „aufgeklärten“ Zeitgenossen bis heute nicht hören, weil dann das gesamte Projekt „neuer Gender-Mensch“ schon im Ansatz gescheitert wäre. „Mit Abscheu zitiert Skinner am Schluss seines Buches ‚Was ist Behaviorismus?‘ Konrad Lorenz mit dem Satz, wonach der Menschheit die größte Gefahr dadurch drohe, dass der Mensch seiner nie ganz Herr zu werden wisse.“ Skinners Antwort: „Wenn das wahr wäre, wären wir verloren.“ 38 Also durfte es nicht wahr sein.
„Aber was geschah mit dem Bösen, der Macht der Destruktivität?“ fragte Horst-Eberhard Richter. Die Antwort: „Seiner Bewältigung dienten verschiedene geistreiche Versuche zur Verleugnung oder Relativierung. Was diese Verdrängungsmanöver bewirkten, war aber nur, die gefährlichen Kräfte unsichtbar zu machen.“ 39 Dass diese Kräfte sehr real sind, wusste besonders Freuds Schüler C. G. Jung: „Es ist nicht wahr, das wir einzig mit der Ratio und dem Willen auskommen. Wir sind ganz im Gegenteil beständig unter dem Einfluss von störenden Mächten, die Vernunft und Willen durchkreuzen, das heißt, sie sind stärker als das letztere…“ 40
Das Wesen des Menschen insgesamt, seine moralische Ambivalenz, seine Sehnsucht nach dem Paradies und seine Suche nach Sinn, waren den Materialisten