Fettnäpfchenführer China. Anja Obst
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Читать онлайн книгу Fettnäpfchenführer China - Anja Obst страница 9
Da die wenigsten Restaurants Tischdecken oder Teppichböden haben, ist das Ausspucken von Knochen nichts Besonderes. Sie lassen sich schnell und einfach zusammenkehren. Dass wir es befremdlich finden, liegt daran, dass unsere Eltern uns ein anderes Benehmen beigebracht haben. In China wird niemand missbilligend gucken, wenn Sie Ungenießbares im hohen Bogen auf den Boden befördern, außer natürlich Sie sind in einem sehr noblen Restaurant.
Da probiert er doch lieber von dem Ei mit Tomate, das gerade gebracht wird. Es ist nicht so einfach, das glitschige Rührei auf die Stäbchen zu kriegen, und beim ersten Versuch fällt es auch glatt auf den Tisch. Beherzt versucht er es wieder, als sein Sitznachbar laut auf ihn einredet.
»Du solltest nicht vom Tisch essen«, übersetzt Jason, »der ist dreckig.«
Wie zum Beweis kommt die Kellnerin in dem Moment mit einem grauen Lappen daher und befreit den Nachbartisch von ausgespuckten Resten, die sie einfach auf den Boden fallen lässt. Den Lappen klemmt sie wieder, so wie er ist, an ihre Schürze. Mittlerweile hat ihm sein Nachbar schon ein großes Stück Ei mit Tomate auf ein kleines Tellerchen gelegt.
ÜBRIGENS
Mit dieser Geste, die besten Stückchen eines Gerichts auf den Teller des anderen zu legen, zeigt der Chinese seine Achtung und Freundschaft. Schwierig wird es, wenn der hoch angesehene Hühnerfuß auf Ihrem Teller landet und Sie vielleicht diese Köstlichkeit nicht so wertschätzen. Wenn Sie es schaffen, knabbern Sie ein wenig dran und lassen ihn dann einfach liegen. Ohne Knabbern geht zur Not auch, viele Chinesen wissen mittlerweile, dass die Geschmäcker verschieden sind.
Die Tellerchen hatte Peter gar nicht bemerkt. Dankbar lächelt er den Chinesen an und kann endlich probieren. Dass das Ei gezuckert ist, hatte er allerdings nicht erwartet.
Glücklicherweise steht noch eine Vielzahl anderer Gerichte auf dem Tisch, die weder mysteriös noch schwer zu essen scheinen. Und, wie er bald herausfindet, zudem köstlich sind. Ihm vergeht nur kurz der Appetit, als er seinen Gegenüber beobachten muss, wie der sich mit seinem langen Fingernagel Fleischreste aus den Zahnritzen herausklaubt, sie betrachtet und dann wieder genüsslich in den Mund steckt.
Ablenkung naht zum Glück in Form der Suppe. Die Kellnerin schöpft für jeden ein Schälchen und stellt es vor die Gäste. Dazu bekommt jeder einen unförmigen Porzellanlöffel, der kaum in den Mund passt. Muss er auch nicht, wie Peter feststellt, denn alle, einschließlich Jason, schlürfen lautstark die Suppe aus den Löffeln. Dass danach jeder nach Herzenslust rülpst, schockiert Peter nun gar nicht mehr. (Schlürfen ist übrigens nicht nur salonfähig, sondern sogar erwünscht. Denn erst mit der eingesogenen Luft zusammen entfaltet die Suppe ihren ganzen Geschmack.)
Ein gewisses Sättigungsgefühl stellt sich schließlich ein, und Peter hofft inständig, dass nicht noch mehr Gerichte aufgetischt werden. Die meisten Platten sind noch nicht mal zur Hälfte leer gegessen.
ZUM GLÜCK, ...
... denn alles aufzuessen bedeutet in China, dass es gerade so gereicht hat oder sogar zu wenig war. Um dem vorzubeugen, bestellen die Chinesen meist viel mehr, als man essen kann. Was wir als Verschwendung betrachten, gehört in China zum guten Ton. Jemand, der zu wenig bestellt, ist ein alter Geizkragen.
Da kommt auch schon wieder die Kellnerin und stellt jedem eine Schüssel Reis hin. Hm, ein bisschen spät, denkt Peter, wir sind ja eigentlich schon fertig.
Jason sieht den überraschten Blick von Peter und lacht: »Hast du nicht gewusst, dass der Reis zum Schluss kommt?«
Peter schüttelt den Kopf.
»In vielen westlichen Ländern wird eine Suppe als Vorspeise serviert«, fährt Jason fort, »der Reis ist Beilage zum Hauptgericht. In China aber ist die Suppe das Schlusslicht. Und der Reis«, Jason macht eine theatralische Pause, »der Reis ist nur noch ein Füller, falls du nicht satt geworden bist. Und wenn du den Reis gar aufisst, bedeutet es entweder, dass dir das ganze Essen nicht geschmeckt hat – oder es nicht genug war.«
Peter, der schon ein wenig von dem Reis gegessen hat, lässt erschrocken die Stäbchen sinken. Nein, Hunger hat er wirklich keinen mehr. Er wollte höflich sein, nach deutscher Art, und nichts stehen lassen. Und stand damit kurz davor, den Gastgeber bloßzustellen. Welch’ verkehrte Welt!
Zwei der Chinesen haben sich bereits eine Zigarette angezündet – was der eine übrigens auch schon während des Essens gemacht hatte, ohne zu fragen, ob es stört, und sogar ohne mit dem Essen aufzuhören.
Jason winkt der Kellnerin, die sofort mit der Rechnung kommt. Peter zückt sein Portemonnaie und teilt im Kopf die Summe durch fünf. Am Tisch ist ein kleiner Streit losgebrochen, jeder zerrt an der Rechnung. Jason gibt erst nach, als der eine Chinese aufsteht und ihn böse anschaut.
Peter wird mucksmäuschenstill und versteht die Welt nicht mehr. Wie kann er auch ahnen, dass Rechnungen nicht geteilt werden und Gäste nicht bezahlen dürfen. Auch wenn Jason die Initiative zu dem Essen ergriffen hatte, so sind er und Peter in den Augen der Chinesen Gäste. Unter Chinesen zahlt hingegen meist der, der eingeladen hat.
Das Einzige, womit Peter sich trösten kann, ist, dass dieses üppige Mahl den Chinesen finanziell nicht ruinieren wird: Nur wenige Euro pro Person kostet der Spaß. Gut, das Ambiente ist etwas dürftig, aber so hervorragend hat Peter selten gegessen.
Und beim Aufstehen passt er eben auf, dass er nicht in die Knochen tritt.
Essen als Medizin
Auch wenn es in diesem Restaurant nicht so erscheint, für die Chinesen ist die Nahrungsaufnahme mehr als nur satt werden. Abgesehen von dem geselligen Aspekt – die Chinesen essen gerne in großer und, wie erwähnt, lauter Runde – haben Lebensmittel in der chinesischen Philosophie eine viel wichtigere Bedeutung.
Die Chinesen sind davon überzeugt, mit den richtigen Zutaten nicht nur gesund zu leben, sondern auch Krankheiten vorbeugen und heilen zu können. Ich weiß, das ist nichts Neues. Jeder Arzt in Deutschland rät, viel Gemüse und Ballaststoffe zu sich zu nehmen, wo ist da der Unterschied? Bei den Chinesen kommt es jedoch nicht auf den Nährwert an, sondern es geht um die Balance.
Während wir uns gesund mit Salaten und fettarmen Speisen ernähren, schaut sich der Chinese erst einmal an, wie sein yīn und yáng beschaffen sind, jene Gegensätze wie hell und dunkel, männlich und weiblich, Wasser und Feuer, die es auszubalancieren gilt. Sind sie ausgeglichen, kann das qì, die Lebensenergie, fließen. Fehlt es an einem, stockt das ganze System, Blockaden entstehen und der Körper wird krank.
Fehlt dem Körper zum Beispiel yáng, das heißt, er ist zu kalt (weil man vielleicht zu viel Salat isst), dann helfen frittierte Speisen, die den Überschuss an yīn ausgleichen. Da geht sie hin, die Theorie, dass Pommes frites ungesund sind.
Aber bevor Sie jetzt die Fritteuse anwerfen, denken Sie bitte an das Gleichgewicht! Machen Sie sich lieber auch einen Gemüseteller dazu.
Es gibt lange Listen von Lebensmitteln und Gewürzen, die zwischen yīn, yáng und ›neutral‹ unterscheiden. Rohes Gemüse, Obst, Fisch und Joghurt sind yīn, die meisten Fleischsorten yáng. Reis und Brot sind neutral. Bei den Gewürzen gehört paradoxerweise Chili zum yīn, da es hilft, den Körper durch Schwitzen zu kühlen. Um die Verwirrung perfekt zu machen, werden auch die