Fettnäpfchenführer China. Anja Obst
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Für den jungen Chinesen scheinen die Fragen völlig normal – soll Peter also doch eine Summe nennen? Wirre Überlegungen schwirren durch seinen Kopf. Vielleicht könnte er weniger angeben, als er tatsächlich bekommt. Die Chinesen verdienen allgemein viel weniger, als die Deutschen. Sie haben aber auch geringere Miet- und Lebenshaltungskosten. Oder soll er es lieber ganz lassen? Vielleicht kommt ja sonst noch einer der Arbeiter auf die Idee, ihn als reich einzustufen und zu überfallen.
Während sein Kopf noch die Gedanken sortiert, führt die Zunge ein Eigenleben. »Ich habe neunhundert Euro im Monat«, hört er sich selbst sagen.
ZUM VERGLEICH
Ein durchschnittliches Monatsgehalt in Chinas Großstädten liegt zwischen 700 und 900 Euro, der Landesdurchschnitt liegt bei rund 650 Euro. Natürlich muss davon alles Notwendige bezahlt werden, aber ein Chinese rechnet selten netto. Er hört nur die Summe, die zur Verfügung steht. Welche Kosten damit gedeckt werden müssen, spielt keine Rolle. Da viele Chinesen die reinsten Sparfüchse sind, verzichten sie lieber auf Luxus wie Ausgehen oder teure Kleidung und nehmen zudem an, dass andere Nationalitäten genauso denken. Der arme Peter ist in ihren Augen somit ein Großverdiener, obwohl er in Deutschland damit nur knapp über der Armutsgrenze läge.
Ein Raunen geht durch die Menge, auch der junge Chinese ist baff, so viel hatte er nicht erwartet. Peter kämpft mit seinen Vokabeln, möchte er doch das Verhältnis seiner Kosten und Einnahmen deutlich machen. Schließlich zahlt er davon monatlich zweihundertfünfzig Euro für sein Zimmer und dreihundert Euro Studiengebühr. Da bleiben nur dreihundertfünfzig übrig, die er zum Leben hat.
»Deutschland ist reich«, weiß der junge Chinese.
Peters Versuche, alles ins rechte Licht zu rücken, scheitern an seinem Wortschatz. So gerne hätte er deutlich gemacht, dass dreihundertfünfzig Euro nicht viel sind. Jedenfalls in Deutschland. Allerdings hat er noch keine Ahnung, wie weit er mit dem Geld hier in Peking kommen wird. Er gibt aber lieber auf und verabschiedet sich von der neuen Bekanntschaft.
Als er an einem Kiosk eine Flasche Wasser kauft, wird er neugierig von dem Besitzer beäugt. Mit dem Wechselgeld kommt die Frage: »Woher kommst du?«
Fluchtartig und für den Verkäufer völlig unverständlich verlässt Peter den Verkaufsstand und beeilt sich, zurück ins Wohnheim zu kommen.
Die Neugierde der Chinesen
Abgesehen von Handelsbeziehungen blieb China immer eher für sich. Es gab kein Bestreben, andere Länder zu bekämpfen, um deren Territorien in Anspruch zu nehmen. Sie beschränkten sich darauf, Fremde daran zu hindern, das Land zu kolonialisieren oder einfach nur zu betreten. Der schönste Beweis dafür ist die Große Mauer, die eigens zu dem Zweck gebaut wurde, die Mongolen fernzuhalten. Doch was hat das mit der chinesischen Neugierde zu tun?
Natürlich gab es zu jeder Zeit Chinesen, die im Ausland lebten, studierten oder arbeiteten. Der Großteil jedoch blieb im eigenen Land. Auch waren immer sogenannte ausländische Teufel im chinesischen Reich, wie zum Beispiel Missionare oder auch Geschäftsleute. Die meisten von ihnen waren allerdings nicht gerne gesehen, und nur die wenigsten Chinesen hatten Kontakt mit ihnen. Für alle anderen waren Ausländer wie grüne Männchen vom Mars.
Ein Hauptgrund der eigenen Isolation war das Bestreben, sich vor schädlichen Einflüssen aus dem Ausland zu schützen. Mit der Machtübernahme 1949 durch die Kommunistische Partei kam während der Kulturrevolution zudem das Verbot auf, der Bourgeoisie zu frönen, wozu auch Kontakte zu Ausländern oder Eigentum ausländischer Gegenstände gehörten. Alles aus dem Ausland war verpönt. Entsprechend niedrig war auch die Zahl der Ausländer in China, ob Residenten, Geschäftsleute oder Touristen.
Mit anderen Worten, das Ausland war ein rotes Tuch und Informationen darüber dürftig oder negativ.
DIE GROSSE PROLETARISCHE KULTURREVOLUTION
Als Mao Zedong 1966 diese ›Aufräumaktion‹ startete, war sein Bestreben, die VR China von Kapitalisten, Intellektuellen und Freidenkern zu säubern. Niemand konnte ahnen, in welches Chaos das Land getrieben werden sollte. Jeder lief Gefahr, als Konterrevolutionär eingestuft und verhaftet oder gar getötet zu werden – auch wenn er sich vorher als Kommunist bewährt hatte.
Viele nutzten die Chance, den verhassten Nachbarn oder Lehrer zu denunzieren. Dafür reichte es, dass dieser ein amerikanisches Buch oder eine Schallplatte von Beethoven besaß. Schüler und Studenten schlossen sich zu den ›Roten Garden‹ zusammen, schlugen im Namen der Revolution Verdächtige nieder, brannten deren Häuser ab und hinterließen eine Schneise der Zerstörung.
Viele Unschuldige kamen dabei zu Tode oder waren für den Rest ihres Lebens gebrandmarkt. Schulen und Unis wurden geschlossen, die Wirtschaft lag brach. Selbst der Verkehr sollte angepasst werden: Bei roten Ampeln anzuhalten, widersprach der marxistischen Logik, entsprechend sollte diese Farbe nun für freie Fahrt stehen. Doch als die Fanatiker einen drastischen Anstieg von Verkehrsunfällen beobachteten, da natürlich viele aus Gewohnheit weiter bei Grün über die Straße fuhren, ließen sie von dieser Änderung wieder ab.
Erst nach zehn Jahren, mit dem Tod Mao Zedongs, war der Spuk schließlich vorbei.
Heutzutage ist dies natürlich nicht mehr der Fall, und mittlerweile leben unzählige Ausländer in China. In größeren Städten wie Peking und Shanghai gehören sie daher zum normalen Stadtbild und erregen nur noch selten Aufsehen unter der einheimischen Bevölkerung. Doch schon ein paar Kilometer außerhalb der Stadtgrenzen stößt die ›Langnase‹, wie die Ausländer noch immer gerne genannt werden, auf ungläubige Augen und pure Neugierde. In die Tiefen der Provinzen verirren sich eben die wenigsten.
Dort lebende Chinesen haben wahrscheinlich noch nie einen blonden Menschen gesehen. Die Wanderarbeiter, die sich um Peter formatiert hatten, gehören auch dazu. Sie haben sich noch nicht daran gewöhnt, Kulleraugen und helle Haare zu sehen. Geschweige denn mit diesen fremdländischen Wesen zu reden. Und wo sie schon so anders aussehen, müssen sie ja auch ganz anders sein. Dies gilt es, herauszufinden. Mit den immer gleichen Fragen.
Trotz vieler Berichte im Fernsehen oder in Zeitungen über Ausländer wird ein persönliches Zusammentreffen mit der Möglichkeit, viel über ihn zu erfahren, noch immer gerne ausgenutzt. Die Fragen, die, wie abgesprochen, von jedem Chinesen gestellt werden, beziehen sich fast alle auf das persönliche Leben, da die Antworten dann Vergleiche mit dem eigenen Leben zulassen. Und sie geben Aufschluss über die Gepflogenheiten eines anderen Landes. Eine unverheiratete Frau über 30? Ein alleinstehender Mann mit Kind? In China etwas Besonderes!
Wer ein wenig in das Land eindringt, fern von den touristischen Trampelpfaden, muss damit rechnen, dass sich Menschentrauben um einen herum bilden. Ähnlich wie die kleine Gruppe Wanderarbeiter um Peter. Wir Europäer sind eben genauso exotisch für sie wie die Asiaten für uns.
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TIĚ CHǓ CHÉNG ZHĒN1
WO EIN WILLE IST, IST AUCH EIN WEG
铁杵成针
Das