Fettnäpfchenführer Finnland. Gudrun Söffker

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Fettnäpfchenführer Finnland - Gudrun Söffker Fettnäpfchenführer

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Geräusch hinter sich. Leise und mit einem fast hinterhältig sanften Klicken schließt sich die Wohnungstür.

       Sopii!

      Laufen, sich bewegen, trainieren, Sport treiben, den Körper fit halten, mit allen Varianten der Ertüchtigung wird Greta Anerkennung finden. Morgens durch die Innenstadt Helsinkis zu sausen ist eher ungewöhnlich, die vielen parkähnlichen Anlagen und Fußwege in den Vorstädten sind sehr viel beliebter bei Joggern, denn wer möchte schon um Aktentaschen Slalom laufen, dauernd an Ampeln stehen bleiben und den Berufsverkehr einatmen. Ein Problem ist es aber nicht. Unter www.ulkoilukartta.fi findet sich ein aktivitätsbezogener Stadtplan des Großraums Helsinki. Ulkoilu bedeutet wörtlich etwas wie »Draußensein«. Es geht also darum, die schönsten Orte für jede Bewegung im Freien zu finden. Wie viel Klischee darin steckt, dass die Finnen in der Natur am liebsten entspannen, sollte man all diejenigen fragen, die das in Interviews und Umfragen beständig von sich geben. Und das zieht sich durch alle Berufe, Generationen und sozialen Gruppen. Wer in sportlicher Betätigung auch eine bestimmte Geisteshaltung sieht, kann dafür einen speziellen finnischen Begriff verwenden: sisu (siehe »Hast du sisu?«). Man trainiert sich, wappnet sich gegen Widerstände und hält durch. Seitdem auch in Mitteleuropa die Sportangebote außerhalb der Vereine in Fitnessstudios, Trainingskursen und Ähnlichem enorm zugenommen haben, ist man hierzulande so weit finnlandisiert, dass man seine Gewohnheiten einfach dorthin mitnehmen kann.

      Ebenso stimmig ist ihre Vorstellung vom Interesse der Finnen an passgenauen Nahrungsergänzungsmitteln. In den letzten Jahren sind die Verkaufszahlen allerdings auf dem (hohen) Niveau von etwa 500 Millionen Euro pro Jahr stagniert. In Kundenbefragungen wurde herausgefunden, dass immer mehr Menschen Sorge vor Nebenwirkungen haben und einen konkreten Effekt der oft teuren Präparate sehen wollen. Korrekt ist auch Lauris Hinweis, dass besonders junge Frauen in Finnland immer noch solchen Produkten zugeneigt sind. Angesichts des allgemein großen Interesses an gesundheitsförderlichem Essen (siehe »Schmeckt’s?«) ist ein freier Meinungsaustausch darüber generell üblich.

      6

       WILLST DU DAS WIRKLICH?

       VON NÄHE UND DISTANZ

      Seit 19 Uhr klingelt es immer wieder an der Tür. Greta sitzt in ihrem Zimmer und liest, also, sie versucht zu lesen. Aber der Lärm auf dem Flur und im Wohnzimmer stört sie immer wieder. Nein, genau genommen stört er sie gar nicht, er steigert nur ihre Unruhe. Eigentlich geht es mich ja nichts an, denkt sie und blättert die nächste Seite um. Als sie sich wieder in ihr Buch vertiefen will, merkt sie, dass sie die letzten Zeilen gar nicht mehr richtig gelesen hat.

      Lauri hat angekündigt, dass heute ein paar Freunde von ihm kommen würden für einen Filmabend. In der Küche stapeln sich Pizzakartons, und Greta hat bereitwillig Joghurt, Milch, Butter und Käse aus dem Kühlschrank geräumt, damit dort Platz ist für Cola und Bier.

      »Wird das ’ne Party? Wie viele kommen denn? Hast du Geburtstag?«

      Lauris Antwort war eher knapp: »Na ja, mal sehen. Nein.«

      Greta hat extra sorgfältig abgewaschen, das gesamte Geschirr ordentlich weggestellt und fast noch angefangen, die Fenster zu putzen. Nicht damit alles top-sauber aussieht, wenn die Gäste kommen, sondern weil sie gehofft hat, dass Lauri irgendwann mehr erzählen würde. Vor allem brennt ihr die Frage auf den Nägeln, ob sie dabei sein sollte nachher. Immerhin ist das ja eine WG und ihr gemeinsames Wohnzimmer, aber Lauri ist so kurz angebunden, dass sie sich nicht getraut hat zu fragen. Oder ist es selbstverständlich, und es wäre unhöflich, nicht zu kommen? Da erscheint ein ganzer Schwung Finnen, endlich mal die Gelegenheit, Leute kennenzulernen, und sie soll sich in ihr Zimmer einschließen? Kommt gar nicht infrage. Wütend wirft Greta ihr Buch aufs Bett. Betont gelassen schlendert sie in die Küche und holt sich etwas zu trinken. Die Tür zum Wohnzimmer steht offen, lautes Lachen und Gespräche dringen heraus, von denen sie kein Wort versteht. Das wär natürlich auch albern, wenn alle Englisch reden müssten, nur weil sie dabei ist.

      Den Müll könnte man noch mal rausbringen – erledigt. Wie viel Kaffee ist denn noch da? Viel. Der Ofen jault, so ganz neu ist er nicht mehr, und drei Pizzen duften, braten, haben eine knusprig-braune Farbe angenommen, und der Käse wirft schon Blasen. Sie müssten jetzt doch unbedingt sofort mal dringend rausgenommen werden. Greta macht einen entschlossenen Schritt in Richtung Wohnzimmer, guckt kurz hinein, findet Lauri so schnell gar nicht, aber irgendwo muss er doch sein. »Die Pizza sieht fertig aus.« Schon ist sie wieder weg. Ob jemand ein »Danke« gerufen hat, konnte sie gar nicht mehr hören.

      Und jetzt? Jetzt wäre es doch an der Zeit, dass die Jungs sie mal einladen. Nach einer halben Stunde glaubt sie kaum mehr daran. Nach fünf E-Mails an fünf Freundinnen in Deutschland mit belanglosen Sätzen zum schönen Wetter und der schönen Stadt und der schönen Wohnung steigt der Ärger wieder in ihr hoch. Die machen sich einen lustigen Abend, und sie soll sich in ihre vier Wände verkriechen.

      Aber wer zwingt sie denn dazu? Es ist höchstens halb neun, morgen früh hat sie keinen wichtigen Termin, also kann sie ohne Weiteres noch mal rausgehen. In der Stadt ist bestimmt was los. Oder sie kann es auch sein lassen. Sie muss ja schließlich kein Aktionsprogramm aufstellen, nur um sich zu beweisen, dass sie total beschäftigt ist. Apropos beschäftigt: Das Übungsbuch für den Sprachkurs steht doch schon im Regal, da könnte sie wirklich mal reingucken. Grammatik, Dialoge, Vokabellisten, fröhliche Zeichnungen von Menschen in Sommerkleidern. Gibt es eigentlich auch Sprachlehrbücher, die im Winter spielen? Wahrscheinlich nicht, da kommt nicht die tolle Urlaubsstimmung auf, die man sich wünscht, wenn man ins Ausland geht. Jetzt ist Sommer, und es ist hell, und sie ist in Helsinki, in einer netten WG, und die wollen sie nicht dabeihaben. Was nutzt einem da das fröhliche Sprachbuch? Lustlos schlägt Greta das erste Kapitel auf. Begrüßung. Hei. Hallo. Mitä kuuluu? Wie geht’s? Hyvää. Gut. Klar, wenn man gefragt wird, behauptet jeder, dass es ihm gut geht. Immer diese Stereotype. Sie kann doch nicht ins Wohnzimmer gehen und mal eben in die Runde fragen: Mitä kuuluu? Minä olen Greta. Ich bin Greta. Das ist wirklich peinlich: gleich jedem die Hand hinstrecken, ja hallo, wer bist du denn, alles klar? Minä olen saksalainen. Ich bin Deutsche. Na toll. Als ob das der erste Satz sein muss, den man sagt. Ist das denn so entscheidend? Reduziert sich die Identität immer gleich auf die Nationalität, sobald man ins Ausland geht? Aus dem Wohnzimmer ist nichts mehr zu hören. Ob die eingeschlafen sind? Greta horcht noch einmal genauer. Nichts. Halb widerwillig geht sie in den Flur. Die Tür ist zu. Ein paar Stimmen sind zu hören, Autogeräusche. Ah, jetzt sehen sie sich den Film an, irgendeinen amerikanischen Actionfilm, Greta hatte ihn auf dem Tisch liegen sehen, bevor alle kamen. Na, dann ist der nette Teil des Abends eh vorbei.

      Aber nicht für sie. Während im Wohnzimmer von stahlharten Typen die Welt gerettet wird, streckt Greta sich auf ihrem Bett aus. Die Spannung fällt langsam von ihr ab. Sie schließt die Augen und bemerkt amüsiert, dass ein leichtes Lächeln auf ihr Gesicht gezogen ist, während sie gerade an nichts gedacht und über nichts nachgegrübelt hat. Manchmal ist es offenbar schwieriger, untätig zu sein als immer überall dabei. Neben dem Übungsbuch steht auch das neue Wörterbuch im Regal. Greta setzt sich halb auf und zieht es heraus. Nach R sucht sie, nach R wie Ruhe: rauha auf Finnisch. Und darunter entdeckt sie eine Floskel: omassa rauhassa, wörtlich: in der eigenen Ruhe. In der eigenen Sommerabendruhe, im eigenen Zimmer, mit dem eigenen Fernsehprogramm, nämlich gar keinem. Warum mit sechs fremden Finnen Tiefkühlpizza konsumieren und schmatzend im Schnelldurchgang Freundschaften konstruieren? Warum nicht einfach Arme und Beine von sich strecken, die Gedanken fliegen lassen

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