Fettnäpfchenführer Finnland. Gudrun Söffker
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Wem das alles zu theoretisch ist: Hinfahren, um null Uhr im T-Shirt Zeitung lesen, schwimmen gehen und im wahrsten Sinne des Wortes die Nacht zum Tage machen. Ganz Konsequente verlegen den Schlaf dauerhaft auf die Uhrzeiten zwischen acht Uhr morgens und vier Uhr nachmittags. Gerade das Dämmerlicht zaubert wundervolle Stimmungen in die nordische Landschaft. Zur Wiedereingewöhnung in den mitteleuropäisch anerkannten Arbeitsrhythmus braucht man dann aber recht lange ...
Greta trinkt ihren Kaffee also allein. Vor dem Küchenfenster schwingen ein paar dünne Birkenzweige im Wind und lassen ihre Blätter flattern. Der weiße schmale Stamm strahlt im Morgenlicht. Sie tritt bis an die Scheibe heran und sieht hinunter auf die Straße. Viele Menschen sind nicht unterwegs, dafür aber einige ziemlich schnell und einige mit Stöcken.
Das ist die Idee! Eine morgendliche Joggingrunde durch Helsinki, das lockert auch den verspannten Rücken. So klare Luft hat sie in einer Großstadt noch nie erlebt. Ohne Uhr und ohne die Kopfhörer, die sie zu Hause beim Laufen immer braucht, um im Straßenlärm ihren Rhythmus zu finden, taucht Greta ein in Helsinkis Morgenstimmung.
Als sie zum Markt kommt, sind die Fußwege schon voller, die Kleidung der eilenden Menschen eleganter, was vermuten lässt, dass sie zu den Büros der Stadtverwaltung, der Uni oder der staatlichen Behörden unterwegs sind, die hier verstreut liegen. Oder doch eher zur Bank?
Greta überholt auf der Straße und läuft in gleichmäßig schnellem Tempo weiter. Langsam gerät sie in unbekannte Viertel. Nach einem relativ steilen Anstieg bleibt sie an einem Platz mit einer Kirche und einer Schule stehen und sieht zurück. Wenn sie sich recht an den Stadtplan erinnert, ist das Zentrum auf drei Seiten (außer im Norden) von Wasser umgeben, eigentlich schon eine große Halbinsel an sich. Obwohl die Sonne ja bereits ziemlich hoch steht, ist sie sicher noch lange nicht im Süden. Greta blickt sich um. Also ist etwa dort drüben Osten, und im Osten liegt Katajanokka, ihr Viertel.
Weit kann es eigentlich auch nicht mehr sein bis zum Südrand der Stadt, und damit zur Küste. In diese Richtung geht es auch bergab, also fällt ihr die Entscheidung leicht. Schon bald ist sie wirklich am Wasser.
Dort draußen scheinen mindestens so viele Leute unterwegs zu sein wie in der Stadt. Segelboote jeder Größe kreuzen auf den kurzen Wellen, auch ein paar Paddler gleiten ganz in der Nähe vorbei. Greta nutzt den herrlichen Anblick für eine Pause und ein paar Dehnübungen.
Der frische Wind lässt sie aber nicht lange ruhig stehen. Als sie der Wasserlinie gen Osten folgt, erstreckt sich linker Hand ein schöner, weiter Park. Hier trifft sie einige weitere Bewegungsenthusiasten, wie auf Katajanokka oft mit Stöcken ausgerüstet.
TRAINER ZUM SKILÄUFER: MACHEN SIE EINE TYPISCHE HANDBEWEGUNG!
Wer kennt Mauri Repo (1945–2002)? Kaum jemand, wahrscheinlich nur Langlauf-Spezialisten. Er war Nationaltrainer des Verbandes der finnischen Arbeitersportvereine. Seine Idee, das Skilaufen auch in den schneefreien Sommer zu verlegen, ist aber heute weithin bekannt und beliebt – unter dem 20 Jahre später verbreiteten Namen Nordic Walking. Bereits 1979 hat Mauri Repo Bücher über Sommer-training mit Stöcken geschrieben, was international aber kaum beachtet wurde. Erst seit dem Ende der 1990er-Jahre werden Stöcke für Freizeitsportler produziert und haben seitdem die Märkte erobert.
Und schon bald öffnet sich der Blick hinein zum Hafen und Marktplatz. Als hätte sie die Strecke schon 100 Mal zurückgelegt, biegt Greta nach zehn Minuten in den Katajanokanranta ein. Wie spät es jetzt wohl sein mag? Kurz vor der Haustür bleibt sie abrupt stehen. Oh nein, die Schlüssel! Die hat sie in der Eile vorhin ganz vergessen ... Und wenn Lauri jetzt schon weg ist? Oder noch schläft?
»Huomenta, guten Morgen!«, tönt es aus der Gegensprechanlage, kaum dass sie atemlos auf den Knopf gedrückt hat.
»Oh, Gott sei Dank, du bist da!« Erleichterung schwingt in Gretas Stimme mit, als sie rasch die Treppen in ihren zweiten Stock hinaufgesprungen ist. »Huomenta!« Und schon ist der kurze Schreckmoment vergessen. »Wusste gar nicht, wie groß Helsinki ist. Ich glaub, ich hab die ganze Stadt durchquert. Bin gleich wieder da.«
Mit nassem Haar und frischer Energie sitzt Greta kurz darauf bei Lauri am Küchentisch.
»Hast du dich verlaufen oder trainierst du für den Marathon?« Er blickt kurz über seine Zeitung zu ihr hinüber.
Greta starrt zurück, ein bisschen beleidigt. »Ich war joggen.«
»Um diese Uhrzeit? Respekt«, hört sie undeutlich seine Stimme.
Greta holt aus ihrem Schrank erstmal eine Plastikdose und schluckt zwei runde rote Kapseln. Als sie gerade in ihr Zimmer gehen will, dreht Lauri sich zu ihr um und sieht sie vorwurfsvoll an.
»Bei deinem Enthusiasmus bekomme ich glatt ein schlechtes Gewissen. Du warst fast ’ne Stunde unterwegs. Und ich hab jetzt höchstens noch 35 Minuten ...«
Betont langsam steht er auf und lässt ein etwas spöttisches Lachen erkennen, nicht unsympathisch, aber ein bisschen mysteriös. »Was ist das denn?« Er schüttelt Gretas Plastikbüchse mit dem Preiselbeeraufdruck in seiner Hand.
»Finnische Vitamine.« Greta erläutert ihm im Handumdrehen die besonderen Eigenschaften dieser pulverisierten Natur: »Nach dem Sport hilft das dem Körper bei der Regeneration. Ihr Finnen habt da tolle Dinge entwickelt.«
Erst als Lauri mit einem stummen »Hm« an ihr vorbeigehen will, bemerkt Greta, dass auch er in voller Sportausrüstung steckt.
»Nimm dir nachher ruhig zwei. Tut gut!«
»Dankeschön, ich bin für so was nicht zu begeistern. Wenn ich Vitamine brauche, greife ich in den Kühlschrank.«
Greta entdeckt dort eine fast volle Glasflasche.
»Preiselbeersirup, und zwar echtes. Wer weiß, was dein Körper mit diesen Präparaten anstellt. Gut sind sie jedenfalls nicht.«
Greta widerspricht. »Der Verkäufer in meinem Reformhaus hat mir erzählt, dass Finnen eine halbe Milliarde Euro für Nahrungsergänzungen ausgeben. Und dass das bei naturreinen Produkten nicht schädlich sein kann.«
»Wenn du dem vertrauen willst. Ich habe vor ein paar Jahren eine Studie gelesen, dass zugeführte Vitamine den Körper sogar schwächen können. Und warum viel Geld ausgeben, wenn’s auch anders geht?«
»Jeder dritte Finne nimmt solche Mittel«, meint Greta kopfschüttelnd.
»Ja«, stimmt Lauri zu, »besonders sportliche Frauen unter 35 Jahren. Als ob ihr’s nötig hättet!«
»Vielleicht sind wir einfach gesundheitsbewusster und nicht so altmodisch!«
Für die letzten Worte muss sie ihm ins Treppenhaus folgen, denn Lauri hat