Bonusland. Götz Nitsche

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Bonusland - Götz Nitsche

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bergig die Region trotz der schmalen Landbrücke zwischen den Küsten ist.

      Einmal kurz streifen wir die Küste am Pahurehure Inlet, einer der zahllosen Buchten im Stadtgebiet. Auckland bietet vermutlich mehr Zugang zum Wasser als jede andere Stadt der Welt. Allein der Haupthafen im Stadtzentrum nahe der berühmten Harbour Bridge und dem Sky Tower bietet Platz für 1400 Segelboote. Das sind mehr als in jedem anderen Hafen der gesamten südlichen Hemisphäre. Tatsächlich gibt es weltweit keine andere Stadt, in der es mehr Boote pro Einwohner gibt. Daher trägt Auckland auch den Beinamen »City of Sails«.

      Als wir uns ein gutes Stück südlich der Metropolregion befinden, stelle ich fest, dass der Highway inzwischen in beiden Fahrtrichtungen zweispurig ausgebaut ist. Vor zehn Jahren gab es nur eine Spur pro Richtung. Alle zehn oder zwanzig Kilometer führte die Schnellstraße mitten durch eine kleine Ortschaft. Es gab keine Ausfahrten im Sinne von deutschen Autobahnen. Der Verkehr drosselte einfach ein wenig die Geschwindigkeit. Wer abbiegen musste, blieb einfach stehen und wartete, bis sich eine Lücke auftat. Wer einkaufen wollte, hielt auf dem Seitenstreifen vor dem örtlichen Supermarkt. Es war nicht zuletzt dieser provinzielle Charme, der dafür sorgte, dass ich mich in Neuseeland verliebte.

      Heute gibt es Umgehungsstraßen. Das enttäuscht mich ein wenig. Gut, der Highway One ist immerhin die meistbefahrene Straße des Landes, aber das Verkehrsaufkommen entspricht bestenfalls dem einer mittelgroßen deutschen Landstraße. Doch offensichtlich hat der Fortschritt in den letzten zehn Jahren auch vor Neuseeland nicht Halt gemacht. Ich bin gespannt zu sehen, was sich noch alles verändert hat.

      Eine Stunde südlich von Auckland, kurz vor Hamilton, hält der Busfahrer in einem kleinen Ort namens Ngāruawāhia. Dieser Zungenbrecher von einem Ortsnamen ist mein Stopp. Aufgeregt, gleichermaßen nervös wie voller Vorfreude, nehme ich meinen Rucksack und eile zur Tür. Hier bin ich vor zehn Jahren zur Schule gegangen. Hier lebt nach wie vor meine Gastfamilie von damals. Vor wenigen Wochen erst, als ich mir das Ticket für den Flug kaufte, trat ich nach langer Zeit wieder mit ihnen in Kontakt. Ich schrieb ihnen, dass ich kommen würde. Sie zögerten nicht einen Augenblick und luden mich umgehend zu sich ein.

      Die Tür schwingt auf – und Evelyn grinst mir vom Parkplatz aus entgegen. Eine herzliche Umarmung später ist alles so vertraut wie vor zehn Jahren. Evelyn ist eine Frau im besten Alter mit einem schelmischen Lachen und kurzen braunen Haaren, in die sich immer mehr grauen Strähnen mischen. Sie hat vier eigene Kinder großgezogen, die inzwischen über das gesamte Land und die Welt verteilt leben – und unzählige Pflegekinder.

      In Neuseeland gibt es keine Waisenhäuser, sondern es gibt Familien wie die von Evelyn und ihrem Ehemann Dave, die Kindern in Not ein Heim auf Zeit bieten. Meist sind dies Kinder von Alkoholikern oder anderen Suchtkranken, die sich in Therapie befinden, oder eben Vollwaisen. Ich erinnere mich schon auf der Heimfahrt an das ständige Tohuwabohu, das in ihrem Haus herrschte. Zeitweise waren wir bis zu elf Kinder auf einmal. Und natürlich waren nicht nur Sonnenscheine darunter, das ist bei dem seelischen Rucksack, den solche Kinder mit sich herumtragen, klar. Manche waren verträumte Einzelgänger, die mit sich selbst redeten, andere schüchtern, aber enorm höflich – und manche neigten zu Gewalttaten und unvorhersehbaren Wutausbrüchen. Ich erinnere mich an einen Zwölfjährigen, der öfter Beschwerdebriefe von den Lehrern mit nach Hause brachte als Hausaufgaben. Oder einen erst vierjährigen Bub, der leider nie richtig zu sprechen gelernt hatte und sich nur Aufmerksamkeit zu verschaffen wusste, indem er seinen Nebenmann in den Arm biss.

      Mit liebevoller Strenge manövrierten Dave und Evelyn dieses Schiff voller Verrückter durch Kindheit und Pubertät. Wir Älteren wurden mit in die Verantwortung genommen, und so wurden ihre leiblichen Kinder – die etwa in meinem Alter waren – zwangsweise schneller erwachsen als die meisten Teenager. Auch ich wurde von Anfang an als vollverantwortliches Familienmitglied eingespannt – und teilte die Zeit auf dem Trampolin so fair wie möglich ein: Erst ich, dann alle anderen. Hey, was will man erwarten, wenn man die Verantwortung über das Trampolin einem Sechzehnjährigen überträgt?

      »Wie viele Kinder habt ihr gerade?«, frage ich Evelyn.

      »Och, fast gar keine. Nur vier«, lacht sie.

      Das klingt tatsächlich ganz entspannt. Ihre eigenen Kinder sind alle ausgezogen, und so betreuen sie derzeit nur vier Pflegekinder im Alter von zwei bis zwölf Jahren.

      »Die Zeiten, in denen wir immer Ja sagen konnten, sind vorbei. Wir werden auch älter.«

      Aber nicht minder umtriebig, wie ich bald feststelle. Dave, Evelyns Ehemann, dessen Brille so groß wie sein Herz ist, hat schon immer ein erfinderisches Leben geführt, und er scheint nicht vorzuhaben, damit aufzuhören. Er war schon Besitzer mehrerer Fish-&-Chips-Buden, hat bei der Gemeinde gearbeitet und stellt aktuell Kinderspielzeug aus Holz in Eigenarbeit her. In seinem Garten hielt er sich damals, vor zehn Jahren, ein gutes Dutzend Hühner, drei Rinder (mit den unheilschwangeren Namen Schnitzel, Rump Steak und Filet Mignon) und sechs Emus. Jawohl, Emus. Die stammen zwar eigentlich aus Australien, schmecken aber auch in Neuseeland hervorragend. Obwohl seine Familie nie wirklich wohlhabend war, erfüllte er mit seinem Erfindergeist doch stets alle Bedürfnisse und mehr. Die Hälfte des damaligen Hauses bestand aus nicht mehr als Pressspanwänden, weil er aufgrund der Vielzahl an Kindern, die es bevölkerten, mal eben einen Ostflügel in Eigenregie anbaute. Das Dach war dicht und die nicht isolierten Wände warm genug, zumindest für Neuseeland.

      »Wie geht’s dir, Kumpel?«, begrüßt er mich, als wir in den Hof fahren, als wäre ich nur mal eben ein paar Wochen weg gewesen. »Darf ich dir unser Weihnachtsessen vorstellen?« Er führt mich zu einem selbst gebauten Gehege, in dem sich sechs putzige Ferkel tummeln. Sie quieken vergnügt, als ich mich zu ihnen hinunterbeuge. »Ich habe ihnen noch gar keine Namen gegeben«, bemerkt Dave. »Andererseits sollten sich die Kinder besser eh nicht zu sehr an sie gewöhnen. Trotzdem, vielleicht sollte ich sie wenigstens nach Schinken und Braten unterteilen.« Nachdenklich reibt er sich das bärtige Kinn. Er hat den Humor einer Person vom Lande, aber mir gefällt seine trockene Art. Am Ende geht er doch respektvoll mit seinen Tieren um und bringt seinen Kindern bei, das Fleisch aus eigener Aufzucht zu schätzen.

      Dave und Evelyn weisen mir sogleich das schönste Zimmer im Haus zu und weigern sich, eine finanzielle Kompensation für meine Zeit bei ihnen zu akzeptieren.

      »Wie lange bleibst du denn?«, fragt Dave ohne eine Spur von Hintersinn.

      Ich hoffe, alle Ausrüstung innerhalb einer Woche zusammenzubringen, sage ich vorsichtig. Ob es wohl möglich wäre, dass ich so lange bei ihnen bliebe?

      »Klar«, sagt er und steck dabei so viel Selbstverständnis in dieses eine Wort, dass es mir tatsächlich mein schlechtes Gewissen nimmt. Diese beiden Menschen sind so warmherzig und tiefenentspannt, wie man es sich nur für sich selbst wünschen kann. Und das trotz ihres chaotischen Lebens.

      Über ein halbes Jahr führte ich mit meiner späteren Freundin eine offene Beziehung. Wir trafen uns drei- oder viermal pro Woche, lachten gemeinsam, tranken gemeinsam, gingen mit gemeinsamen Freunden weg. Es war wunderbar. Eigentlich brauchte ich längst nichts anderes mehr. Ich hatte mich seit Ewigkeiten mit keiner anderen Frau getroffen. Ich war zufrieden, so wie es war.

      Warum also warten? Warum sich dem gemeinsamen Glück verweigern? Als sie mir diese Fragen stellte, fand ich darauf selbst keine schlüssige Antwort. Also stimmte ich zu: Ab sofort waren wir ein Paar. Doch ab dem Moment, wo es offiziell wurde, knallte bei mir eine Sicherung durch. Ich fühlte mich übertölpelt, so als hätte ich mich zu der Beziehung breitschlagen lassen. Ich hatte meine Prinzipien gehabt, ich hatte vor Monaten klargestellt, dass ich keine Beziehung wollte. Und

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