Bonusland. Götz Nitsche
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Er schrieb mir von seinen Begegnungen mit den einfachen Bauern, die ihn ansprachen und die er kaum verstand, mit denen er sich mit Händen und Füßen verständigte und irgendwie darauf einigte, sein Zelt auf ihrem Grund aufstellen zu dürfen. Denen er auf den Feldern half und die ihm dafür zeigten, wie man in den Seen Fische fing. Ich konnte förmlich herauslesen, wie Steffens Augen leuchteten, wenn er mir im Chat von seinen neuesten Abenteuern berichtete. Was ich zu dem Zeitpunkt schon wusste, war, dass ich seine Radreise unbedingt weiterverfolgen würde. Was allerdings noch in meinem Unterbewusstsein schlummerte, war die Entscheidung, mich selbst schon bald auf eine solche Reise zu begeben.
* * *
Nach drei Wochen zwischen Dschungel, Karibik und Mayaruinen musste Clara wieder abreisen. In nur eineinhalb Tagen reisten wir von der honduranischen Karibikküste in klapprigen gelben Bussen auf die andere Seite der Berge bis kurz vor den Pazifischen Ozean, zurück zum Flughafen San Salvadors. Stunde um Stunde kurvten wir durch die Berge, in vier oder fünf verschiedenen Bussen, jeweils vom Startpunkt bis zur Endhaltestelle. Während dieser Zeit hatte ich ziemlich miese Laune, denn Clara hätte ihren Flug ebenso gut von Tegucigalpa buchen können, oder sogar von San Pedro Sula, und das sogar zu einem günstigeren Preis. Drauf geschissen, dass San Pedro Sula die offiziell gefährlichste Stadt der Welt ist, mit einer doppelt so hohen Mordrate wie Guatemala City. Ich hätte diese zweitägige Bustortur sofort gegen eine Nacht in San Pedro Sula eingetauscht, so mies gelaunt war ich nach zehn Stunden im Bus.
Clara musste das spüren, doch sie ließ sich nichts anmerken, denn es war ihr wichtig, dass ich sie begleitete. Da ich aber im unmittelbaren Anschluss ein paar Tage auf Utila verbringen wollte, einer Insel vor der honduranischen Küste, würde ich nach ihrem Abflug den gesamten Weg zurückfahren müssen. Einmal quer über die Kontinentalbrücke und zurück – dieser Umstand war doch Grund genug, schlechte Laune zu haben, oder? Wenn ich Hunger habe oder erschöpft bin, kann ich ziemlich selbstgerecht sein. Und in diesem Fall saßen wir nun schon seit Stunden ohne Proviant in einem völlig überfüllten Bus, aber dieser blöde Flieger wartete nicht auf uns.
Erst als der Flughafen endlich ausgeschildert war, wurde mir schlagartig bewusst, woher meine miese Stimmung wirklich rührte. Ich hatte Schiss!
Ab dem Moment, in dem Clara durch die Passkontrolle marschierte, würde ich allein sein. Für elfeinhalb Monate. Gut, ich hatte eine alte Freundin in Santiago de Chile, aber die war im Augenblick gefühlt so weit weg, wie sie es auch tatsächlich war: am anderen Ende des südamerikanischen Kontinents. Ich war für das gesamte nächste Jahr allein. Jede Krise, sei sie körperlich, seelisch oder finanziell, würde ich allein meistern müssen. Mit einem Mal hatte ich eine Heidenangst. Am liebsten wollte ich Clara gar nicht gehen lassen. Ich war ohnehin kein Mann für Abschiede, wollte mich eher heimlich, still und leise aus dem Staub machen und wäre in diesem Moment am liebsten in Honduras geblieben. Und nun zog es sich endlos in die Länge, bis ihr Flug endlich ging. Über die Berge, über die Grenze, fast bis zum anderen Ozean, bis zum Flughafen von San Salvador. Wir redeten über das Studium, über unsere Freundschaft, über die Zukunft. Wir lagen auf der Wiese vor dem Check-in-Gebäude und warteten.
Und plötzlich war sie weg. Auf dem Weg zurück in die USA, zu ihrer Familie, zurück in vertraute Kulturen. Und ich stand allein unter einer Palme auf dem Parkplatz des hässlichsten Flughafens der Welt und sah, wie ihr Flugzeug abhob und schließlich aus meiner Sicht verschwand. Ein Kloß drückte auf meine Kehle so groß wie die Papayas, die überall an den Bäumen hingen. Leider schmeckte er nicht so gut.
Wie sollte ich allein überhaupt zurechtkommen? War mein Spanisch wirklich gut genug? Was, wenn ich meine Kreditkarte verlor, wer würde mir aushelfen? Ich hatte nun alle Zeit und alle Freiheiten der Welt. Nur – wie sollte ich sie nutzen? Ich musste an Steffen denken, der seit ein paar Wochen allein mit dem Fahrrad unterwegs war, und meine Bewunderung für ihn wuchs ins Unermessliche. Unter dieser verdammten Palme vor diesem verdammten Flughafen fühlte ich mich so klein wie noch nie in meinem Leben.
Ich fuhr mit einem Bus – dieses Mal tauchte einer auf – zurück zur Hauptstadt, um dort die Nacht zu verbringen. Einsam und gedankenleer starrte ich aus dem Fenster. Ich fühlte mich ausgelaugt. Nicht mehr ganz so ängstlich wie noch vorhin, aber Vorfreude fühlte sich definitiv anders an. Das hatte ich mir anders ausgemalt, als ich das Ticket gebucht hatte. Ich hatte gedacht, dass ich stärker sei. Irgendwann setzte ich meine Kopfhörer auf und hörte Musik, um mich abzulenken. Irgendwelche Sommermusik. Energiegeladen, gitarrenlastig. Volle Pulle. Ich atmete tief ein. Ein Mann betrat den Bus, schob sich mit einem Korb voller Pupusas durch die Reihen. Warum nicht?, dachte ich und kaufte einen der gefüllten Maisfladen.
Und plötzlich, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen und beschloss, dort zu bleiben. Mit einem Mal erkannte ich das Gute am Alleinreisen, ich sah die Vorzüge, die sich mir boten: Ich konnte Musik hören, wann ich wollte, reisen, wohin ich wollte, essen, wann ich Hunger hatte. Und ich konnte meine Ruhe haben, wenn mir danach war, und würde sicher auch jemanden zum Reden finden, wenn ich Lust darauf hatte. Ich reise gern allein, beschloss ich. Weil ich tun und lassen kann, was ich will. Unbewusst war das Lächeln zu einem breiten Grinsen geworden. Jawohl, dachte ich. Ich reise gern allein.
Vom unerwarteten Enthusiasmus beschwingt, suchte ich eine hospedaje für die Nacht in San Salvador. Das Schicksal würde es gut mit mir meinen, beschloss ich. Ich müsste mich nur mutig allen Herausforderungen stellen.
* * *
Ohne dass ich es ahnte, war das Schicksal in dem Gasthaus, für das ich mich schließlich entschied, bereits anwesend und streckte mir seinen Hintern entgegen. Es steckte in einer Radlerhose und spannte sich gefährlich über seinen gesammelten Erfahrungen. Eine mittelalte Dame ragte aus der Hose hervor, gebückt und pfeifend. Sie kramte in den Satteltaschen eines stattlichen Trekkingrads. Als sie mich endlich bemerkte, richtete sie sich auf, um mich vorbeizulassen.
»Oh, hello«, grüßte sie höflich. Sie hatte ihr Rad in den kühlen Flur der hospedaje gerollt und schien sich erst mal sortieren zu müssen. Offensichtlich war sie eben erst eingetroffen. Ich fragte sie, wo sie gerade herkam.
»Aus London«, antwortete sie fröhlich, als sei das der Name der Stadt gleich nebenan.
»Muss ein langer Tag gewesen sein«, hätte ich antworten sollen. Stattdessen glotzte ich wie eine Kuh beim Melken und versuchte einzuordnen, wer von uns beiden plemplem war.
Sie lachte über meinen Gesichtsausdruck. Aber sie blieb dabei und erzählte mir ihre Geschichte: Anderthalb Jahre zuvor sei sie aufgebrochen, durch Europa und Asien geradelt, immer weiter, bis sie schließlich in Peking das Meer erreicht habe. Dort, so erfuhr ich, hatte sie sich einen Flug nach Alaska gekauft, im Sommer dieses Jahres. Seither befand sie sich auf der Reise nach Feuerland. Wenn sie schon Europa und Asien mit dem Fahrrad durchquerte, warum nicht mal noch eben den amerikanischen Kontinent auf dem längsten möglichen Weg?
Ich war tief beeindruckt. Die Frau war sicherlich über fünfzig. Ihre Radhose war so weit, dass ich sie als Handtuch hätte verwenden können (allerdings lieber nicht in diesem Moment), und dazu passte auch der dazugehörige Hintern. Die gute Frau sah alles andere als sportlich aus. Zudem reiste sie allein und sprach kaum ein Wort Spanisch. Trotzdem schien sie bei bester Laune und Gesundheit zu sein und insgesamt so weit ganz gut voranzukommen. Etwa 30.000 Kilometer habe sie bereits auf dem Tacho, erzählte sie.
Sie hatte diese Unterhaltung schon öfter geführt, vermutlich um die 500 Mal. Mit jedem Kilometer, den sie sich von ihrer Heimat entfernt hatte, wurde ihre Geschichte beeindruckender. Und sie schien jeden dieser Kilometer zu genießen.
Ich